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Seit alles begann, seit dem 9. August, kann ich gar nicht mehr schlafen.
Ich kann keine Serien schauen.
Ich kann nicht lesen.
Das Wichtigste aber – ich kann mich nicht mit dem beschäftigen, was mir stets Ruhe gab: Ich kann keine Prosa schreiben.
Neulich, nachdem ich erfahren habe, dass zwei meiner Studentinnen, sehr kluge Köpfe, festgenommen und nach Paragraf 23.34 zu 14 Tagen verurteilt wurden und mein engster Freund heimlich – selbst seinen Angehörigen gegenüber – ins Ausland geflohen ist (ihm drohte Haft), da dachte ich: Was wird, wenn sie kommen, um mich zu holen?
Was werden sie sehen, wenn sie die alten Dateien auf meinem Computer umpflügen?
Das brachte mich zu den Ordnern, die ich angelegt hatte, als ich ganz am Anfang meines Weges in die Literatur stand.
So fand ich diesen Text, den ich schon vergessen hatte.
Einen Text, den ich für mich selbst geschrieben hatte, 2007, nach den ersten Massenprotesten, als friedlichen Bürgern erstmals der Awtosak vorgestellt wurde, ein Laster zum Gefangenentransport.
Heute, im Jahr 2020, wo Zehntausende eine Verhaftung durchgemacht haben, ist der Awtosak Symbol für Belarus geworden.
Damals sorgte er für Schockstarre.
Ich las den Text und konnte die Tränen nicht aufhalten.
Nichts hat sich geändert.
Alles aktuell.
Und plötzlich beruhigte ich mich: Es ist gar nicht so schlimm, dass ich jetzt stumm bin. Was ich über die Proteste jetzt hätte schreiben können, ist schon geschrieben.
Und zwar vor 13 Jahren.

* * *

Die Zeichnung

Wann verstehst du endlich, dass unser Nachname, deiner und meiner, ein beschissenes Kennwort fürs Datei-Archiv ist?

Ich sage es Ihnen gleich, Wladimir Stepanowitsch: Ein "Paps" wird es zwischen uns nie mehr geben. Ich habe keinen Vater.

Diesen Ton habe ich – das werden Sie wohl erraten haben, da Sie sich nun erschauernd an den Tisch setzen, auf dem ich diesen Brief hinterließ – wegen einer außergewöhnlichen Entdeckung angeschlagen, die ich auf dem Laufwerk D:\Work gemacht habe, in einem Ordner mit dem interessanten Namen Prototyp_0623. Ja, ja, ich weiß jetzt, mit welch außerordentlich geheimen Dingen du dich dieses ganze halbe Jahr beschäftigt hast, eingeschlossen in deinem Zimmer. Ich weiß jetzt also, was für eine Zeichnung – Tschertjosch – du angefertigt hast, mein werter ehemaliger Vater.

Was für ein Wort, nicht wahr? Tschertjosch… Als ob Tscherti – Teufel – in einen Tanz verfallen. Teufelsreigen, Tschertjosch

Ich weiß alles, Papa. Jetzt nimm eine Diazepam und mach dich bereit zuzuhören.

Für die Zeit bis zu meiner Abreise werde ich bei Freunden wohnen. Die Taschen sind schon gepackt, ich habe dafür jene fünf Tage gebraucht, die ich mit dir nicht geredet habe. Such mich nicht und ruf nicht bei der Miliz an. Ich weiß, du kennst die Zeit und das Datum, an dem ich fliege, aber ich bitte dich sehr, nicht zum Flughafen zu kommen. Ich werde mich bei dir melden, falls ich das Gefühl haben sollte, dass ich bereit bin, zu verzeihen und dich vor meiner Abreise noch einmal zu sehen.

Zuerst aber zu dem, was es bei mir an Neuigkeiten gibt. Wie ich, weißt auch du, dass für Dascha und mich in drei Wochen eigentlich Hochzeit sein sollte. Danach wollten wir zu zweit weggehen. Ich habe einen Zweijahresvertrag bei Microsoft. Die Pässe und die Aufenthaltsgenehmigungen sind schon fertig.

Wir haben es uns vor dem Computer gemütlich gemacht, ich öffnete eine Bildergalerie New Yorker Mietwohnungen und nahm sie mit auf einen Ausflug durch unsere möglichen amerikanischen Apartments. Da ist unsere Wohnungstür, hier kommt man rein, rechts das Gästezimmer, das nach Westen rausgeht, vom Fenster aus der Blick auf den Park, da wird es sicher Sonnenuntergänge geben. Sie unterbrach mich, immer hat sie mir widersprochen, sie unterbricht mich also und sagt: Nein, dieser Raum ist vom Eingang aus rechts, also geht er nach Osten. Dort werden wir uns lieben, dann in den Schlaf sinken und von den ersten Strahlen der Morgensonne aufwachen. Danach übernahm sie dann die Führung und stellte aus Bildern im Netz die unglaublichsten Wohnungen zusammen. Wir wohnten in verlassen Bruchbuden, Fahrstuhlschächten, in Shoppingmalls, die noch nicht aufgemacht haben, und nirgendwo habe ich mich so wohlgefühlt wie in diesen mythischen Domizilen, die ihren Fantasien entsprangen.

In einer von ihnen sind wir zusammengekommen – neben dem Bett werden wir ein Nachttischchen haben, auf das ich jeden dritten Tag zum Sonnenuntergang einen Strauß frische Blumen hinstelle. Papa, in der Wohnung, die ich vorgestern übers Internet gemietet habe, gibt es einen herrlichen Nussbaumtisch und auf den werde ich ganz bestimmt einen Blumenstrauß stellen, in Gedenken an unseren Traum. In Erinnerung an Dascha.

Also, Papa, ich schätze dieses Getue, das du mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten veranstaltet hast, und ich antworte auf deine erste Frage. Warum ich mich schon seit einem Monat einen Scheißdreck, so lautete dein Aphorismus, um die Hochzeit kümmere. Ich sag’s dir, Papa: Weil es keine Hochzeit geben wird. Dascha wird mich nicht heiraten. Ich fliege allein. Sie bleibt hier. Der Grund ist ihre – für dich natürlich "rätselhafte" – Zeit im Knast.

Jetzt erschauerst du wieder, nicht wahr? Die Teufel aus deiner Zeichnung, Papa, die umtanzen dich im Reigen. Und sie werden bis zu deinem Ende tanzen, sie werden dich nicht loslassen. Papa, wenn du bisher kein Diazepam geschluckt hast, dann mach das jetzt unbedingt. Denn es kommt noch schlimmer.

Dascha hat sich stark verändert, nachdem sie in diesem eisigen März, während der Ereignisse – über die du, gewöhnlich mit einem Grinsen beim Abendessen, als "Pseudo-Revolution" geredet hast – drei Tage im Zelt auf dem Platz zugebracht hat. Am dritten Tag wurde die Zeltstadt mit Baggern abgerissen. Sie wurde mit den anderen in einen Awtosak gesteckt, ins Untersuchungsgefängnis gebracht und per Gerichtsurteil zu 15 Tage verurteilt. Sie schlief auf Brettern, Papa, verstehst du? Meine Dascha hat 15 Tage auf Brettern geschlafen!

Scheiß auf diesen Zeitungsstil, Papa, ich erzähle dir, was die Haft mit ihr gemacht hat! Papa, die Ohrläppchen meiner Dascha haben nach Flieder gerochen. Dieser Geruch wurde bei Regen stärker. Ich bin ihr mit dem Regenschirm hinterhergelaufen. Der Regenschirm bog schelmisch seine Speichen, die Leute schauten uns verwundert an. Schließlich kannst du den Leuten ja schlecht erklären, dass ich versuche, den Fliedergeruch zu bewahren, der in ihrem Haar steckte. Und jetzt ist mir klar, dass ich die ganze Zeit, unsere ganze Zeit, mit einem geöffneten Regenschirm hinter ihr herlief und versuchte, sie zu verstecken, zu schützen, zu behüten. Sie lief von mir fort und ich konnte ihrem Rücken ansehen, dass sie lacht. Ich habe sie nicht bewahren können, Papa. Sie ist dort gewesen, in der Zeltstadt.

Du weißt, wie meine Haltung dazu war. Du weißt, ich war immer dagegen. Ich konnte aber nichts tun. Sie spazierte auf dem Geländer, am Abgrund entlang wie eine Katze. Mein Regenschirm hat sie nicht erreicht. Katzen stürzen manchmal in die Tiefe, das wusste ich. Doch wir lächelten uns weiter an, es trennte uns ein Sprung – in die Umarmung, in die Nähe, in unser Lächeln für zwei. Ein Sprung, den schließlich keiner von uns getan hat.

Ich verhehle nicht, dass ich die ganzen drei Tage auf den leicht salzigen Wellen einer leichten Gekränktheit trieb. Ich konnte nicht verstehen, warum mir unser individuelles Glück genügte, und sie plötzlich für all jene nicht verliebten Statisten in grauen Regenmänteln Glück wollte, die sich alle auf meinem Wege drängten, als ich ihr hinterherrannte. Doch ihre Augen wurden eisig, als ich sie zu überreden versuchte, das Zelt, das Lager, den Platz zu verlassen. Das ist meine Dascha, Papa. So ist sie und Punkt. Ich habe ihr alles sagt, was ich über die Opposition denke und ihre Augen wurden eisig und ihr Gesicht verbissen. Suchte wohl Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit ist immer auf der Seite der Gekränkten. Denk darüber nach! Es gibt Leute, die verrückt sind nach Gerechtigkeit und ihr Sprachvermögen verlieren, wenn sie das Böse sehen, das von anderen verübt wird.

Als sie Dascha freigelassen haben, rochen ihre Ohrläppchen nicht mehr nach Flieder. Ich habe versucht, meine Nase an ihrem Hals zu reiben, aber sie schreckte zurück wie vor einem Schlag. Obwohl sie nichts von deiner Tat wusste, Papa. Sie wusste es nicht und wird es nicht wissen – ich werde es ihr nicht sagen, weil ihr in der gleichen Stadt leben müsst.
Ich habe sie vor den Computer gesetzt, um "amerikanische Interieurs" zu spielen, ich habe eine ganze Flucht barocker Säle gesammelt, ich verwendete Worte wie Rokoko, Mezzanin, Stuck und erwartete, dass sie uns aus Protest in Queens einquartiert. Aber Dascha, sie schaute nicht auf den Bildschirm, dachte immer über etwas nach. Und es schien, als schlage ihr Herz nicht mehr.

Das, was ich früher an ihr beobachtet hatte, was sie auf den Platz gehen ließ, das wuchs in ihr wie Seelenkrebs, verdrängte meine zarte Dascha. Sie erzählte, wie es im Untersuchungsgefängnis war, wie nett die Wächter waren, wie sie von ihnen unterstützt wurden, wie sie mit den Mädels scherzten, über diese Bretter, Papa, die bepissten Bretter, völlig ruhig. Das Wichtigste ist jedoch, dass sie an dem Tag, als ich sie am Tor abholte, ins Belarussische wechselte. Du weißt ja, bei uns ist das Belarussische wie das Gälische in Nordirland.

Sie sprach unbeholfen, mit Fehlern, aber beharrlich, ich traute mich nicht zu fragen, warum. Als wir uns das zweite, das letzte Mal trafen, sagte sie, dass sie in Belarus bleibt. Und wenn ich sie wirklich lieben würde, dann müsse ich mit ihr leben. Dass sie nirgendwohin fährt, weil das Verrat wäre. Dieses Land, Wladimir Stepanowitsch, ist zu ihrem Schlachtfeld geworden und Gott allein weiß, wie viele Wunden sie in diesem Kampf noch erleiden wird. Ich würde gern bleiben und mit jener Dascha zusammen kämpfen, die ich geliebt habe und über die ich meinen Regenschirm hielt. Jener Dascha würde ich ins Gefängnis folgen und ins Arbeitslager. Aber dieses arme, traurige und verirrte Wesen, das da neben mir vor dem Computer schwieg, hatte nichts mit Liebe zu tun, nichts mit mir, nichts mit unserer neckischen Vergangenheit, nichts mit unserer amerikanischen Zukunft. Ich habe sie für immer verloren.

Nun von den Überresten meiner armen Dascha zu Ihnen. Den neuen Awtosak habe ich zum ersten Mal in der Nacht vor den Wahlen gesehen. Die Wagen hatten sie damals langsam und feierlich auf den Platz gefahren, damit alle es sehen und Angst haben. Ich sage es ehrlich, Papa: Es ist dir alles gut gelungen – ich hatte Angst. Ich sah diese schwere, riesige Masse in Khaki, die einem Panzer ähnelt, und erstarrte zu Eis. Ein schrecklicher Scherz, dieser Awtosak. Er ist wie ein Trommelwirbel vor dem Galgen. Wie eine Tschechowsche Flinte, die unbedingt losgehen wird. Als wenn die Nationalhymne, die du, Papa, so gar nicht magst, mit Maschinenpistolen-Garben abgespielt wird. Und weißt du, was Dascha gefragt hat, damals noch jene, meine, die lebende Dascha? "Was für Menschen haben diesen Apparat gebaut? Sie leben doch in der gleichen Stadt wie wir! Sie sehen doch all das und verstehen das alles!" Als ob sie eine Ahnung hätte, nicht wahr, Wladimir Stepanowitsch? Schließlich verstehen Sie hier ja alles! Wenn man so Ihre Kommentare hört, während Sie abends die Nachrichten schauen, dann sind Sie fast schon ein ausgewachsener Oppositioneller! Und doch haben Sie gezeichnet, Ihre Teufel gezeichnet, hinter verschlossenen Türen, im Licht der Schreibtischlampe, mit der Maus klickend, Linie um Linie, Gitter um Gitter.

Papa, ich weiß nicht, für welchen Teil dieses Projektes du genau verantwortlich warst. Kann sein, dass es die Fahrerkabine war, in der derjenige saß, der meine Dascha ins Untersuchungsgefängnis fuhr. Vielleicht nur der Aufbau, in dem sie vor Angst zitterte, irgendwie überzeugt, dass man sie zur Hinrichtung fährt. Ich will dich ganz dringend fragen: "Woran hast du bloß gedacht, he? Wie wolltest du dich rechtfertigen? Du bist ja einer, der in Ungarn zum Praktikum war, Solschenizyn las (ich erinnere mich noch, wie du ihn mir feierlich auf den Tisch gelegt hast), der ganz genau wusste, wozu dein Baby dienen sollte, mit dem man dich ausgerechnet im Vorfeld der "Pseudo-Revolution" beauftragt hatte? Was hast du dir zur Rechtfertigung gesagt? Dass das ein Wagen ist, mit dem Häftlinge von einem Gefängnis zum anderen gefahren werden? Papa, mach die Augen auf: Warum dann vorn die keilartige Schaufel, warum die gepanzerte Kabine? Warum das feinmaschige Gitter vor der Windschutzscheibe?

Ich sag’s dir, Papa! Die Pflugschaufel ist da, damit, falls diese "Zeichnung" in eine Menge fährt, die Menschenmasse ihre Fahrt nicht bremst. Das Gitter und die gepanzerte Kabine haben Sie, Wladimir Stepanowitsch, sich einfallen lassen, damit das Volk nicht mit Pflastersteinen die Scheiben zerschlägt und den Fahrer nicht herausholt und nicht meine Dascha befreit, die auf dem Papier ja noch gar nicht festgenommen war! Du hast doch gewusst, dass du ein Instrument zur Unterdrückung von Straßenprotesten entwirfst?! Du hast gewusst, dass du, wie überhaupt jeder in diesem Staat, außer Dascha und mir, eine Stütze des Systems bist?! Du wusstest es, hast aber bei den Nachrichten gegrummelt, die Moderatoren nachgeäfft. Sehr mutig, Papa! Und erinnerst du dich, wie wir mal darüber geredet haben, wie dieser massenhafte Wahn in Deutschland geschehen konnte, wie friedliche Bürger zu blutrünstigen Tieren wurden, die halb Europa im Blut versinken ließen? Papa, alles ist ganz einfach! Jeder hatte seinen Ordner Prototyp_0623 auf dem Laufwerk D:\Work!

Jetzt werde ich dir etwas Feedback geben, Reaktionen der "Nutzer" auf deine Erfindung. Als Erstes, Papa: die oberste Stufe. Das war gar nicht gut durchdacht, die letzte Stufe so hoch zu machen. Weil die Leute in den Awtosak nicht gebeten, sondern geworfen werden, mit einiger Beschleunigungshilfe in den Rücken. Die Beschleunigung führt dann, wenn man an dieser Stufe hängenbleibt, zum freien Fall mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Und der Schwung reicht, um auf dem Boden noch einen Meter weiter zu rutschen, was zu Abschürfungen, Prellungen, Platzwunden und heftigen Blutungen führt. Dascha sagt, dass deshalb der ganze Boden deiner Zeichnung voller Blut war, Papa; es war sehr rutschig. Weißt du, Menschenblut ist ein sehr rutschiges Material. Der Boden hätte aus Gummi gemacht werden müssen. Oder man hätte ihn, da der Prototyp schon in Serie gegangen ist, wenigstens mit Gummimatten abdecken können.

Die zweite Beschwerde: Es gibt zu wenig Plätze für die "Passagiere". 21 Plätze, Papa? Was hast du nur gedacht, als du die Zeichnung gemacht hast? Dass auf Demonstrationen wirklich nur 100 Leute gehen, wie es im Fernsehen heißt? Frag Dascha, wie viele Gefangene in jener Nacht in den Laderaum gepfercht wurden. Das tatsächliche Fassungsvermögen des Panzerwägelchens würde dich positiv überraschen. Frag aber lieber nicht. Weißt du, Dascha hat die blöde Angewohnheit entwickelt, zu lachen und dann sofort zu weinen und beides mit leichtem Zittern, wenn sie sich an jene Stunden erinnert, die sie in deinem Baby verbracht hat.

Und dann das Regal für die Helme der Sondereinheit OMON, die natürlich diejenigen, die von einem Gefängnis zum anderen gefahren werden, begleiten soll. Also die Position des Regals hast du nicht wirklich gut gewählt. Dascha sagt, dass nebenan ein Junge so halb gelegen hat, den man, wie sie sich ausdrückte, derart durchgeklatscht hatte, dass er bewusstlos war. Der Kopf des Jungen, den Dascha zu halten sich nicht traute, weil sie in der Dunkelheit dachte, dass er tot sei, schlug ständig dumpf an das Regal. Dieser hölzerne Klang hat sie, so sagte sie, in eine derartige innere Stille versetzt, dass alles, was danach kam (das Knien im Frost, bei dem man sich einpinkelte, das hast du doch sicher im Internet gelesen, du bist ja interessiert), nur Kleinigkeiten waren. Sie sagt, Papa, dass durch dieses Klopfen etwas in ihr gestorben sei.

Und als Letztes wäre da die Lage der vergitterten Fenster in der Panzerung. Die hast du zu hoch gesetzt, lieber Papa! An die kommt man nur heran, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, und nur mit den Fingerspitzen. Das hast du dir extra ausgedacht, oder? Damit die Häftlinge die Stadt nicht sehen, für sie ein letztes Mal; und damit die Stadt sie nicht sieht! Damit es der Stadt nicht peinlich ist, ja? Ich stelle mir vor, Papa, wie du zufällig in der Gegend bist, wo die Demonstration auseinandergejagt wird. Ich stelle mir vor, wie dich ein Junge durch ein von dir entworfenes Fenster anschaut, einer wie ich. Nein, Papa, das hast du gleich ausgeschlossen. Sie konnten nur ein Stückchen Himmel sehen, genauso wie danach in den Zellen. Und so wären wir an dem Detail angekommen, von dem ich dir eben erzählen wollte.

Als ich in jener Nacht zitternd und stotternd am Gewerkschaftspalast ankam (dreimal habe ich versucht, dem Taxifahrer "Oktobobeber-Platz" zu sagen), sah ich nur vier Wagen. Vier deiner "Zeichnungen". Die Leute waren schon weg, es gab nur noch Haufen von Müll, dort, wo die Zelte gestanden hatten. Ein Milizionär aus der Absperrung, der meinen Zustand bemerkte und verstand, dass ich keiner von denen war, ließ mich zu den Wagen – vielen Dank dafür! Ich ging um diese vier Metallkisten herum und verlor den Verstand, weil ich Dascha kannte und wusste, dass sie – mit ihrem Charakter – als ein ganz anderes Wesen aus dem Awtosak herauskommen würde. Und so kam es auch. Ich kannte ja Dascha, weil ich sie liebte; und liebte sie, weil ich sie kannte.

Ich ging also um diese vier Kisten herum und rief nach ihr, mit einem Kloß im Hals vor Angst, wie ein Wahnsinniger. Und sie, sie antwortete, ich konnte ihre Stimme hören in dem allgemeinen Geheul. Sie versuchte, mich zu beruhigen, indem sie leise und ruhig wiederholte: "Mein lieber, lieber…" Und ich weiß nicht, welche Kraft es sie kostete, diese ruhige Stimme, wo sie doch sicher war, dass man sie wegbringt, um sie zu erschießen. Und dann sang sie noch unser Lied von der Ziege und dem Eichhörnchen, das wir zusammen gedichtet haben, dieses fröhliche Lied. Wir haben es im Bett gesungen. Scheiße… Ich habe dir das alles deshalb nicht erzählt, damit du dich nicht aufregst, damit mein lieber Vater, der das Angeln liebt und Moskau glaubt den Tränen nicht, sich nicht grämt. Ich sage dir ganz ehrlich: Ich hatte Angst, dass du wie Dascha wirst, wenn ich dir alles erzähle, so wie es war. Ich habe nicht gewusst, dass du niemals so werden würdest wie Dascha. Deine Ebene neigt sich in die entgegengesetzte Richtung. Jenen zu, die Dascha in den Awtosak gepfercht haben.

Ich irrte zwischen diesen vier Gefängnissen im eisigen Wind herum, in dem grauen Mantel, den ich mir über mein T-Shirt übergeworfen hatte, barfuß in Sneakers, und spürte weder die Kälte noch das Schneegestöber, das begonnen hatte. Ich verstand damals kaum, was ich eigentlich erreichen wollte, als ich mit meinen Nägeln an der Seite des gepanzerten Awtosaks kratzte, mir die Nägel abbrach, mit der Wange daran festfror, als ich versuchte, meine Dascha durch die Panzerung zu spüren, zu hören, wo sie steckt, in welchem von ihnen. Jetzt aber ist mir klar, was ich wollte. Ich musste ein letztes Mal ihr Gesicht sehen. Das Gesicht meiner übermütigen Dascha, der Dascha, die ich liebte. Wir hätten genug Kraft gehabt, uns anzulächeln. Mit einer solchen Verabschiedung hätte ich sie wohl allmählich vergessen, sie in mir abtöten können, die Briefe und Hymnen des Müßiggangs, die wir geschrieben haben. Aber alles, was ich sah, als ich zwischen diesen Panzerwagen hin und her lief, das waren die Fingerspitzen, die durch die Gitter unter dem Dach der Aufbauten hindurchschauten. Die sich bewegten wie in Zombiefilmen. Als ob die Awtosaks voller lebender Leichen waren und eine dieser Toten unser albernes Lied von der Ziege und dem Eichhörnchen Dascha sang. Ich schaute auf diese Fingerspitzen und verstand, dass eine dieser Hände meiner Dascha gehörte. Und mir schien, dass sie dort nicht genug Luft kriegen. Da wurde mir klar, dass es dort keine Belüftung gibt, dass es stickig ist, und es kam mir so vor, als ob sie alle – und unter ihnen meine Dascha – mit den Händen atmeten, durch die Fingerspitzen, dass das ihre einzige Möglichkeit war, zu atmen.

Ich habe sie trotzdem nicht gefunden. Ich habe entschieden, dass sie in dem hintersten Awtosak war und habe das all die 15 Tage, die sie im Knast saß, geglaubt. Als sie rauskam, erzählte sie: Es war der in der Mitte. Unser Nichtverstehen begann in jener Nacht, als ich sie nicht fand. Wir haben uns nicht gefunden, weil die Fenster deiner Zeichnung so hoch liegen, Papa. Wegen dieser hochliegenden Fenster konnte ich nicht ein letztes Mal meiner gemütlichen, burschikosen Dascha in die Augen schauen, die ich geliebt habe und die ich mein restliches Leben lieben werde. Du hast mich nicht "Lebe wohl!" sagen lassen, und sei es wenigstens mit den Augen. Dafür, und nur dafür, verfluche ich dich und sage mich von dir los. Du hast keinen Sohn mehr. Sei verflucht.

Du weißt, was weiter geschah. Ich habe dir wohl erzählt, wie ich ihr in einem Päckchen ihren weißen Lieblingstee gebracht habe, Teeblätter, die kaum aufgegangen sind, grünlich-aschgrau zur Spitze hin, "weiße Wimpern", in denen man, wenn man genau hinschaut, ein Stückchen Schlaf finden kann (Oh, wie gern sie schlief!). Aber in der Liste der Lebensmittel, die man übergeben darf, stehen dunkles Brot und Speck, Papa. Speck. Ich habe diesen weißen Tee dem Offizier am Schalter in die Hand gedrückt und in Rage wiederholt, dass Dascha weißen Tee trinken muss, dass sie nicht ohne weißen Tee leben kann, nicht überleben wird ohne weißen Tee, meine Dascha. Und sie hat wirklich nicht überlebt, obwohl sie den Tee, scheint es, doch angenommen haben, aber ich habe dann nicht nachgefragt, ob sie ihn ihr gegeben haben. Dascha ist nicht mehr. Ich bin allein.

Hier mache ich Schluss. Ich weiß nicht, wie du mit dem zurechtkommst, was du hier gelesen hast. Ich spüre, dass in mir jetzt viel Hass auf dich ist, sehr viel mehr, als ich fassen kann und darf. Ich weiß, dass das nicht geht, dass ich selbst das nicht aushalte, dass ich zusammenbreche, aufbreche, ausbreche, aus Amerika zurückkehre und mich vor dir auf die Knie werfe. Schließlich bist du mein Vater. Ich will dich aber nicht mehr sehen. Verzeih mir für alles, was ich hier geschrieben habe.

Papa, Papa, was hast du bloß angerichtet! Wozu hast du bei all dem mitgemacht? Warum hast du dich nicht geweigert, mein lieber Vater? Sie wird durch deine Träume ziehen und dir den Schlaf rauben, genau wie mir. In der unteren Schublade der Kommode liegt eine Flasche Whisky. Trink und leg dich schlafen, morgen früh gehst du dann zur Arbeit und es wird dir besser gehen. Versuch alles zu vergessen. Sei glücklich. Leb wohl für immer.

Dein Sohn.

Übersetzt aus dem Russischen von Hartmut Schröder

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