Ausgabe Mai 2022

Serbischer Spagat: Putinfreundlich in die EU?

Der serbische Präsident Aleksandar Vucic auf einer Pressekonferenz in der Zentrale der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) in Belgrad/Serbien, 3.4.2022 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Der serbische Präsident Aleksandar Vucic auf einer Pressekonferenz in der Zentrale der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) in Belgrad/Serbien, 3.4.2022 (IMAGO / Xinhua)

In ihrer Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schert die serbische Regierung auffällig aus: Als einziges europäisches Land neben Belarus weigert sich Serbien, Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Während andere Staaten ihren Luftraum für russische Maschinen sperrten, erhöhte die serbische Regierung zwischenzeitlich sogar den Flugverkehr mit Russland. Zugleich demonstrierten in der Hauptstadt Belgrad Anfang März tausende Menschen für Wladimir Putin und unterstützten seinen Überfall auf die Ukraine.[1]

Wie ist das Verhalten der Regierung unter Führung der Serbischen Fortschrittspartei (Srpska Napredna Stranka, SNS), die doch immerhin seit 2012 den EU-Beitritt anstrebt, zu verstehen? Welches außenpolitische Programm verfolgt die zunehmend autoritär regierende SNS dabei? Für eine Einordnung müssen drei Faktoren betrachtet werden: erstens die prorussische Stimmung in der Bevölkerung, die von Medien und Regierung in den vergangenen Jahren befeuert wurde; zweitens das spezifische außenpolitische Profil der seit zehn Jahren regierenden SNS, das von einem Spagat zwischen westlich orientiertem Modernisierungsdiskurs und nationalistisch-religiöser Hinwendung gen Osten geprägt ist; und drittens die spezifische geopolitische und politökonomische Position Serbiens in der europäischen Peripherie.

In serbischen Medien wird, erstens, die russische Invasion in der Ukraine als Selbstverteidigung dargestellt und mitunter sogar behauptet, die Ukraine hätte Russland angegriffen. Verschiedene Zeitungen äußern sich bewundernd über die Stärke der russischen Armee und Putins Entschlossenheit, dem Westen die Stirn zu bieten.[2] Für dieses Narrativ braucht es keine gezielte russische Einflussnahme, denn die serbische Presse agiert standardmäßig als Sprachrohr der Regierung in Belgrad. Die Presselandschaft in Serbien ist seit dem Machtantritt der SNS 2012 erheblich weniger pluralistisch geprägt, die Medienfreiheit ist bedroht, Fake News und Schmierenkampagnen gegen oppositionelle Kräfte bestimmen das Bild in den dominierenden regierungsnahen Zeitungen und Fernsehsendern.[3]

Diese nahezu bruchlose Darstellung der russischen Position hat Folgen: Russland gilt – laut Vorkriegsdaten – 95 Prozent der Serb*innen als Verbündeter bzw. notwendiger Partner. Dasselbe sagen 91 Prozent über China, aber nur 68 Prozent über die EU.[4] Auch die Erinnerungen an das Nato-Bombardement im Kosovokrieg 1999 und deren Einbettung in ein teilweise nationalistisch geprägtes, antiwestliches Narrativ sind ein Grund für die positive Einschätzung Russlands bzw. die Skepsis gegenüber der Westintegration.[5] Und da es beim angestrebten EU-Beitritt seit zehn Jahren kaum Fortschritte gibt, wachsen die Zweifel an der außenpolitischen Orientierung der Regierung. Die vom ehemaligen Ultranationalisten Aleksandar Vučić geführte SNS, die ursprünglich mit einem proeuropäischen Kurs und einer graduellen Abkehr von der traditionell engen Bindung an das kulturell nahe christlich-orthodoxe Russland angetreten war, muss auf diese Stimmung Rücksicht nehmen, wenn sie ihr primäres Ziel – den Machterhalt – erreichen will.

Westbindung erreichen, Russland-Nähe erhalten

Ausdruck dieser Stimmung ist die Kritik in manchen prorussischen Publikationen, die der Koalition aus SNS und der Sozialistischen Partei Serbiens (Socijalistička Partija Srbije, SPS) einen zu sanften Kurs gegenüber der EU in der Kosovo-Frage vorwerfen, da Belgrad hierbei zumindest immer wieder Kompromissbereitschaft signalisiert.[6] Die Parlaments-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen Anfang April brachten Stimmengewinne für prorussische, ultranationalistische Parteien, da einige Wähler*innen die fragile, aber kontinuierliche EU-Orientierung der SNS ablehnen.

Dank seiner alles überschattenden Omnipräsenz und der Inszenierung als sich sorgender Staatsmann, der mit harter Hand die serbischen Interessen verteidigt, gewann Vučić dennoch mit fast 60 Prozent die Präsidentschaftswahlen. Auch seine Partei wird weiter regieren – offen ist jedoch in welcher Koalition. Deren Zusammensetzung bestimmt den Rahmen für die zukünftigen außenpolitischen Allianzen sowie die wirtschaftspolitische Orientierung Serbiens. Sollte die SNS beispielsweise ihre Zusammenarbeit mit der erstarkten SPS fortsetzen, ist eine Loslösung von Russland nahezu undenkbar. Das gilt umso mehr, als serbische Außenpolitik, zweitens, ein Spagat zwischen Westen und Osten war und ist. Dabei gilt es, vielfache materielle Verflechtungen zu berücksichtigen und die diskursive Integration verschiedenster Interessen zu erreichen. So tat sich die serbische Regierung zu Beginn des Ukraine-Krieges sichtlich schwer, die russische Aggression zu verurteilen. Als die Vollversammlung der Vereinten Nationen Anfang März mit großer Geschlossenheit eine Erklärung gegen den russischen Krieg verabschiedete, schloss sich jedoch auch der serbische Vertreter an.

Das mag überrascht haben, fügt sich aber in den außenpolitischen Kurs Serbiens unter der SNS ein. Dieser zielt darauf ab, möglichst alle Türen offen zu halten und dabei insbesondere eine dezidierte Westbindung zu erreichen, ohne die Nähe zu Russland aufzugeben. Damit nimmt Serbien eine Sonderrolle in der Region ein. Im Vergleich zu allen anderen Staaten Südosteuropas hat die Regierung beispielsweise nur relativ wenige, nämlich gerade einmal 56 Prozent, ihrer außenpolitischen Entscheidungen mit der EU harmonisiert.[7]

Gegenüber der serbischen Öffentlichkeit schien Aleksandar Vučić sich beinahe für die Zustimmung zur Resolution entschuldigen zu wollen. So betonte er mehrfach, dass die Verurteilung keinerlei Sanktionen impliziert. Auch der Sprecher des serbischen Parlaments und Vorsitzender der eng mit Russland verbundenen SPS, Ivica Dačić, machte deutlich, dass Serbien Sanktionen gegen Russland nicht unterstützen könne.[8] Insbesondere vor den Wahlen im April versuchten die Regierungsparteien SNS und SPS, weder russlandfreundliche Wähler*innen zu verschrecken noch die gute Beziehung zum russischen Regime zu gefährden. Von diesem ist die serbische Regierung zweifach abhängig: Das Land importiert einen Großteil seiner Energie zu vergünstigten Preisen von russischen Produzenten und kann auf Putin als wichtigsten Verbündeten zählen, wenn es darum geht, dem Kosovo die Anerkennung bei den Vereinten Nationen zu verweigern.

Zugleich aber gelten die EU bzw. der Westen in Belgrad als unabdingbar für die Modernisierung des Landes, die in Serbien verknüpft ist mit einem Streben nach nationaler Größe und weltpolitischer Bedeutung. Doch stehen Belgrads nationalistische Ambitionen im Hinblick auf serbisch dominierte Territorien bzw. die serbische Bevölkerung in den Nachbarländern Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo in einem ständigen Spannungsverhältnis zur von der EU verlangten Pluralisierung und Demokratisierung.

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Geopolitische Machtkämpfe

Obwohl in Brüssel auch Kritik an der Machtakkumulation der serbischen Regierung formuliert wird, gilt Vučićdort als regionaler Stabilitätsfaktor und wird von europäischen Staats- und Regierungschef*innen hofiert.[9] Nun aber wächst der Druck aus Brüssel, weil in der EU der serbische Schlingerkurs im Ukraine-Krieg für Unmut gesorgt hat. Als erste Reaktion darauf hat die serbische Regierung die Zahl der Flüge gen Moskau reduziert, schließt Sanktionen jedoch weiterhin aus.[10]

Darin zeigt sich, drittens, ein für die Regierung heikles Navigieren zwischen verschiedenen Ansprüchen und der Wahrung eigener Interessen. Denn aufgrund der spezifischen geopolitischen sowie politökonomischen Lage des Landes und ihres autoritär-klientelistischen Regierens hat sich die Regierung abhängig von unterschiedlichen internationalen Partnern gemacht.

Die Kriege nach dem Auseinanderbrechen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in den 1990er Jahren, die korrupt-klientelistische Herrschaft Slobodan Miloševićs in Belgrad und die kapitalistische Transition nach der „demokratischen Revolution“ ab 2000 haben die einst produktive serbische Wirtschaft zerstört und undurchsichtige Eigentumsverhältnisse geschaffen. Dabei entstand ein Staat, der von Netzwerken durchsetzt ist, die tief ins Milieu der organisierten Kriminalität reichen.[11]

Zudem unterwarf die Öffnung gegenüber der EU lokale Produzent*innen einem Wettbewerb, dem sie nicht gewachsen waren. Serbien entwickelte sich in diesen Jahrzehnten rasch zur ökonomischen Peripherie, die als Reservoir billiger Arbeitskräfte, landwirtschaftlicher und einfacher industrieller Güter sowie von Dienstleistungen gilt.[12] Aufgrund der schlechten sozialen Lage verlassen junge Menschen das Land, die Geburtenrate ist niedrig – laut Prognosen wird die serbische Bevölkerung bis 2050 im Vergleich zu 1990 um 25 Prozent geschrumpft sein.[13]

Da ihr eine eigene industrielle Basis fehlte, war die serbische Wirtschaft in den 2000er Jahren abhängig von Krediten aus dem europäischen Ausland. Doch mit der Finanzkrise 2008 zogen sich viele Investor*innen zurück, die öffentliche Verschuldung wuchs und der Internationale Währungsfonds verlangte Haushaltsdisziplin. Größere Infrastrukturprojekte konnte die serbische Regierung daher nicht aus dem eigenen Budget finanzieren, weshalb sie sich verstärkt an Russland und China wandte. Ähnlich wie Griechenland wurde Serbien für die chinesische Regierung ein wichtiges Ziel von Investitionen und Krediten sowie zum Partner bei Sicherheitspolitik und Digitalisierung. Rund 80 Prozent der chinesischen Investitionen in die Region fließen nach Serbien.[14] Dessen niedrige Umwelt- und Arbeitsrechtsstandards sind für China eine willkommene Gelegenheit, die Produktion auszulagern und die eigene Umweltbilanz zu verbessern.

 Lokale serbische Eliten preisen diese Investitionen als geschickt verhandelten ökonomischen Fortschritt, obwohl es sich häufig um Kredite und damit langfristige Schulden handelt. Statt gut entlohnte Jobs zu bringen, führen viele Projekte zu Zerstörungen der Lebenswelt und zur Hyperausbeutung von Arbeitskräften.[15] Obwohl chinesische Investitionen bislang gerade einmal ein Prozent des Gesamtvolumens ausländischer Investitionen ausmachen – im Gegensatz zu 70 Prozent aus der EU –, erzeugen Regierung und Medien ein verzerrtes Bild vom chinesischen Engagement im Land. Vučić bemüht sich um den chinesischen Präsidenten als „Bruder Xi“ und präsentiert sich selbst als weltgewandten Staatsmann.[16]

Die russische wie auch die chinesische Regierung schätzen ihre ökonomische und politische Präsenz in Serbien wegen der strategischen Nähe zur EU und zu europäischen Märkten. Zugleich bleibt die serbische Abhängigkeit von der europäischen Wirtschaft hoch: Im vergangenen Jahr entfielen auf die EU-Mitgliedsländer mehr als 60 Prozent der serbischen Im- und Exporte.[17] Serbien ist heute somit nicht nur als Peripherie Europas abhängig integriert, sondern zugleich ein Austragungsort internationaler Konkurrenz um Marktzugänge und geopolitische Bündnisbildung.

Die SNS-Regierung nutzte diese unterschiedlichen Interessenlagen bislang gezielt für die Konsolidierung ihrer Macht, indem sie ihre changierende außen- und wirtschaftspolitische Orientierung als Modernisierung bei gleichzeitiger Traditionspflege verkaufte.

Druck auf Belgrad

Doch nach dem Wahlsieg von Vučić und seiner SNS wächst der äußere Druck auf Serbien, sich im von russischer Seite immer brutaler geführten Krieg in der Ukraine zwischen der EU und Russland bzw. China zu entscheiden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die serbische Regierung ihren außenpolitischen Kurs ändern wird, denn aus ihrer Perspektive war dieser erfolgreich, half er ihr doch beim Machterhalt. Eine Abkehr von Russland hingegen würde wegen der Energieabhängigkeit schwere ökonomische Verwerfungen in Serbien nach sich ziehen.

Die Europäische Union wiederum wird sich gut überlegen, wie sehr sie eine Entscheidung forcieren kann. Denn wachsender Druck von ihrer Seite könnte zu zunehmender Skepsis im Land gegenüber der Westintegration führen – und sich somit als Bumerang erweisen.

[1] Krsto Lazarević, Proteste für den großen Bruder, www.jungle.world, 24.3.2022.

[2] CRTA, Prelude to War: Serbian media on Ukraine, www.crta.rs/en, 26.2.2022.

[3] Reporters Without Borders, Serbia, www.rsf.org.

[4] Joanna Hosa, Vessela Tcherneva, Pandemic trends: Serbia looks east, Ukraine looks west. www.ecfr.eu, 5.8.2021.

[5] Franziska Tschinderle, Jugoslawien: Das Erbe der Bomben. www.profil.at, 24.3.2022.

[6] CRTA, Prelude to War: Serbian media on Ukraine. www.crta.rs/en, 26.2.2022.

[7] Sofija Popović, Serbia’s UN vote against Russia’s invasion of Ukraine decrypted, www.euractiv.com, 3.3.2022.

[8] Vgl. Dacic: Serbia can’t impose sanctions on Russia, https://rs.n1info.com/english, 15.3.2022.

[9] Aleks Eror, How Aleksandar Vucic Became Europe’s Favorite Autocrat. www.foreignpolicy.com, 9.3.2018.

[10] Vgl. After Criticism From the EU, Serbia Will Reduce Number of Flights to Moscow, www.schengenvisainfo.com, 18.3.2022.

[11] Sasa Dragojlo, Serbia, State’s Ties to Crime Become Hard to Miss. www.balkaninsight.com, 16.2.2021.

[12] EU in Serbia, Main Trade Partners of Serbia in 2021. www.europa.rs.

[13] Vgl. Shrinking Country: Serbia Struggles With Population Decline, www.voanews.com, 10.2.2020.

[14] Rade Rankovic, China Grows Balkan Investments by Asking Less Than EU, Say Experts, www.voanews.com, 12.12.2021.

[15] Bojan Stojkovski u.a., China in the Balkans: Controversy and Cost, www.balkaninsight.com, 15.12.2021.

[16] Rade Rankovic, China Grows Balkan Investments by Asking Less Than EU, Say Experts, www.voanews.com, 12.12.2021.

[17] EU in Serbia, Main Trade Partners of Serbia in 2021. www.europa.rs.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

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