Der Schriftsteller Joseph Roth: «Wir müssen trachten, die Nazis zu überleben. Es ist nicht allzu schwer: Sie sind eiserne Mörder auf tönernen Sockeln.»

Die Vergangenheit stand dem österreichischen Autor näher als die Gegenwart. Umso deutlicher aber erkannte er die Gefahr, auf die Europa mit Hitlers Machtergreifung zusteuerte.

Paul Jandl
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Der Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939) deutete den Untergang des österreichischen Vielvölkerstaates als Menetekel für die Zukunft. Die Geschichte gab ihm auf eine Weise recht, die für ihn zum tödlichen Drama wurde.

Der Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939) deutete den Untergang des österreichischen Vielvölkerstaates als Menetekel für die Zukunft. Die Geschichte gab ihm auf eine Weise recht, die für ihn zum tödlichen Drama wurde.

AKG

Als am 24. Februar 2022 die russische Invasion in der Ukraine beginnt, trifft es auch die Stadt Brody. Hier, wo noch konservierte Ruinen des Zweiten Weltkriegs stehen, wird der Militärflughafen von russischen Raketen getroffen. Ein Drama für die Bevölkerung, dass es ausgerechnet am Rand ihrer paar Häuser einen Flughafen gibt. Brody ist eine Kleinstadt, die in den letzten 150 Jahren kaum gewachsen ist. Auch dem berühmtesten ihrer Bürger war sie immer zu klein.

Der galizisch-österreichische Schriftsteller Joseph Roth, geboren 1894, betreibt zeit seines Lebens eine Kindsweglegung besonderer Art: Hier wollte er nicht geboren sein. Lieber im nahen Szwaby. Das hörte sich deutscher an. Das war der Klang von Schwabendorf. Wann immer er gefragt wird, nennt Roth den Nachbarort von Brody als seinen Geburtsort.

Es ist kein Längenmass erfunden, das Joseph Roths Heimatgefühle erfassen könnte. Es ging um Zentimeter, aber in manchen Dingen spielten auch Tausende Kilometer keine Rolle. Von Brody aus konnte man bequem nach Russland spazieren. Aber selbst hier, in der östlichen Ecke der österreichischen Monarchie, lag für Joseph Roth die Haupt- und Residenzstadt Wien ganz nahe. Kaiser Franz Joseph war der Vater in einem politischen Patchwork-Gebilde, und für den Schriftsteller war er auch Fixpunkt im privaten Drama.

Die Tatsache, ohne sichtbaren Vater aufgewachsen zu sein, führt bei Joseph Roth zu Fieberphantasien der Einbildung, die immer nahe an der Literatur sind. Er sei der natürliche Sohn eines polnischen Grafen, hat Joseph Roth erzählt. Auch einen österreichischen, früh am Wahnsinn gestorbenen Eisenbahnbeamten, einen Offizier und einen gescheiterten Hopfenhändler führt der Autor als Väter an.

In der weltverlorenen Einsamkeit

In den Delirien des verwaisten Joseph Roth gehen eingebildete Verwandte ein und aus, die ihrerseits Verwandte von Roths literarischem Personal sein könnten. Figuren, wie es sie vielleicht in Brody gegeben hat, nur mit einem Einschlag ins Verrückte. Joseph Roth war ein fanatischer Feind der Provinz und zugleich einer ihrer fanatischsten Verteidiger. Die patriarchale Arroganz westlicher Metropolen war ihm ein Grauen.

Wenn Joseph Roth von den Landschaften erzählt, die heute zur Ukraine gehören, dann geht es um die Organismen pittoresker Kleinstädte und über den Wind, der unaufhörlich über die flachen Hügel wandelt. Von einer «weltverlorenen Einsamkeit» spricht der Schriftsteller, die aber doch nicht so weltverloren ist. «Die Beziehung zwischen Europa und diesem gleichsam verbannten Land ist beständig und lebhaft», notiert der Schriftsteller 1924.

Schon 1924 war das eher eine Hoffnung als Realität, und die vielen europäischen Bücher, die Joseph Roth in den Schaufenstern zu sehen meinte, waren wohl nur Wunschtraum. Aus Frankreich meint Joseph Roth Funken nach Galizien hinübersprühen zu sehen. Bezeichnenderweise über ein Deutschland hinweg, «das im toten Raum zu liegen scheint».

In den dreissiger Jahren ist die europäische Gesamtlage eine andere geworden. Die Zusammenhänge haben sich fatal verändert. 1938, nur ein paar Tage bevor Adolf Hitler Österreich im Handstreich nimmt, stellt Joseph Roth bei einer Rede im Pariser Théâtre de la Renaissance die düstere Prognose: dass Europa verloren ist. «Bilden Sie sich nicht ein, dass man im kommenden Sommer ruhig in der Seine oder in der Rhone schwimmen wird, solange Hitler in der Donau angelt, und bilden Sie sich ja nicht ein, dass er aufhören wird, dort zu angeln, und zwar die ganze Donau entlang bis zum Schwarzen Meer.»

Joseph Roth hat die Macht-Idee des Hegemonialen in ein heute noch bestürzend aktuelles Bild gebracht. Die Idyllen eines selbstvergessenen Kontinents, seine Sommer des Friedens sind tödlich bedroht.

Die glattpolierten Stiefel

Bei allem, was der galizisch-österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth schrieb, ging es darum, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu berechnen. Weil er mit den wesentlichen Fasern seines Herzens noch in der politischen Ökumene des grossen Österreich lebte, hatte er die Gegenwart als Verlust vor Augen. Das Versinken der österreichischen Monarchie im Morast des Ersten Weltkriegs und völkischer Spannungen war sein grosses Trauma, und so wird bei Roth aus der Geschichte eine Privatmythologie.

Das Weltbürgertum des entheimateten Journalisten ist ein brüchiges Exil. In euphorischer Abneigung begegnet er der Moderne und ihrer zivilisatorischen, bis an die Zähne bewaffneten Kulturfeindlichkeit. Roth spürt die Tiefenströme, die die Welt forttragen, am eigenen Leib, und das hat zur Folge, dass er sie beschreiben kann wie kaum ein anderer.

Joseph Roth schreibt über Formen, die die Gesellschaft stützen, und er schreibt über Formen der Auflösung. Aus beidem ist seine Literatur gemacht. Weil er in Niedergangszeiten lebt, kann er die tragische Konkurrenz beider Phänomene beobachten. Halbe Buchseiten lang werden die fragwürdig gewordenen Insignien militärischer Welt- und Selbstbeherrschung beschrieben. Das Blitzen des Säbels, die Orden an der Brust und die glattpolierten schwarzen Stiefel der Kommandanten.

So ist die Welt zusammengehalten: durch eine Uniform, deren Glanz Respekt erzeugt. Verliert die Uniform durch politische oder militärische Ereignisse an Glanz, kippt diese Welt der Formen in ihr Gegenteil. Wie kein anderer hat Roth als Journalist gesellschaftliche Auflösungsprozesse und private Kriegsverliererschicksale beschrieben. Das eine ist Ursache, das andere Symptom.

In den zwanziger Jahren füllen sich Berlins Strassen mit bettelnden ehemaligen Soldaten und durch die Wirtschaftskrise verarmten Menschen. Roths mitfühlende Feuilletons sind Sachspenden an eine immer weiter wachsende Bevölkerungsgruppe, die nichts mehr hat und nichts mehr zu sagen hat. Das beinahe tröstliche Paradox: Die Feuilletons aus den Regionen unter der Armutsgrenze erfreuen sich in der gehobenen Gruppe der Feuilletonleser grosser Beliebtheit.

Das Ringen mit und um Gott

Für den gläubigen Moralisten Roth ist Engagement in der Literatur keine Zugabe, sondern essenziell. So wahr Gott dem Schriftsteller hilft, so soll dem lesenden Menschen auch die Wahrheit eines Romans helfen können. Literatur sei die Aufrichtigkeit selbst und damit der einzig wahre Ausdruck des Lebens, hat Joseph Roth in einem Interview einmal gesagt.

Dichter aus Galizien und der Bukowina

rbl. · Wir beginnen mit diesem Text zu Joseph Roth eine Folge mit Porträts von deutschsprachigen Autoren aus Galizien und der Bukowina. Es handelt sich dabei um die beiden östlichsten Kronländer der Habsburgermonarchie – heute gehören weite Teile dieses Gebiets zur Ukraine, so auch die einstigen Landeshauptstädte Czernowitz (Tscherniwzi) und Lemberg (Lwiw). In der Peripherie des österreich-ungarischen Grossreiches entstand um die Jahrhundertwende Weltliteratur. Die Träger der deutschsprachigen Kultur waren hauptsächlich Juden. Und obwohl viele Autoren auch des Ukrainischen, Polnischen oder Jiddischen mächtig waren, entschieden sich einige, auf Deutsch zu schreiben. Ihre Biografien sind fast immer auch Geschichten von Flucht und Vertreibung. Die Nazis haben dieses einmalige Kulturleben ausgelöscht. Hier stellen wir bekannte wie auch etwas in Vergessenheit Autoren vor.

Joseph Roth, der 1894 in Brody als Kind galizischer Juden geborene Romancier, verstand sich ebenso sehr als Journalist. Nach seinen Studien in Lemberg und Wien und seiner Dienstzeit im Ersten Weltkrieg wurde er 1923 Redaktor bei der «Frankfurter Zeitung». 1933 ging Roth nach Paris in die Emigration, wo er weiterhin sowohl literarisch wie journalistisch tätig war und wo er am 27. Mai 1939 starb. – Nächste Woche erscheint an dieser Stelle ein Porträt des Schriftstellers Karl Emil Franzos (1848–1904).

Nirgendwo ist der Kampf um diese Überzeugung stärker zum Ausdruck gekommen als im 1930 erschienenen «Hiob», dem «Roman eines einfachen Mannes». Der vom Leben schwer geprüfte Mendel Singer, der Gott mit aller Kraft seines Herzens zu leugnen versucht, steckt in der Zwickmühle seines Zweifels: Noch Leugnen heisst Anerkennen.

Hinter der Erzählung des «Hiob»-Romans verbirgt sich auch das private Drama um Roths Frau Friedl. Ihre geistige Umnachtung schreitet immer weiter fort, während ihr Mann sich für dieses Leiden mitverantwortlich fühlt. Joseph Roths Buch ist literarische Theodizee: die Frage, warum Gott das Böse zulässt. Das politisch Böse ist dabei immer mitgemeint. 1940 wird Friedl Roth in der Gaskammer der österreichischen NS-Tötungsanstalt Hartheim ermordet.

Joseph Roth ist der Schriftsteller nervöser Ahnungen. Er war Mythologe und Soziologe zugleich. Dass er das Gesicht der Zeit «zeichne», wie er selbst sagt, ist eine milde Untertreibung. Bis weit an den Horizont malt Roth die Milieus und damit immer auch Europa aus. Es ist ein Getümmel der Figuren und Details. Und irgendwo ganz hinten im Bild hängt als Apotheose des Ganzen noch ein Bild: das Porträt von Kaiser Franz Joseph. Im Bahnhofwartesaal eines galizischen Provinzstädtchens, von Fliegen umschwärmt.

Gestorben an sich selbst

Die Geschichte, die Roth im berühmten Roman «Radetzkymarsch» erzählt, handelt davon, wie weit die österreichische Monarchie gegangen ist, bevor sie zu weit gegangen ist. Es ist eine Welt auf dem Rückzug, die Roth schreibend begleitet. Der Legitimist ist emotional betroffen vom Ende seiner konservativen Utopie und dem Wegdriften der Kindheitslandschaften. Aus dem Frieden unter den Völkern, der vom Kaiser garantiert schien, ist ein erster Weltkrieg geworden. Und das ist noch nicht das Ende.

Aus Deutschland flieht Joseph Roth am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Österreich, diese zusammengeschrumpfte Insel der Heimatgefühle, fällt 1938 in die Hände des Deutschen Reichs. Im Pariser Exil gibt der Schriftsteller für sich selbst Durchhalteparolen aus und schreibt im «Schwarz-gelben Tagebuch» über die Nazis in Österreich: «Wir müssen trachten, sie zu überleben. Es ist nicht allzu schwer: Sie sind eiserne Mörder auf tönernen Sockeln.»

Joseph Roth war kein Überlebender. Er ist am 27. Mai 1939 an sich selbst gestorben. Am Alkohol, den er in rauen Mengen in sich hineingegossen hat, während er in den Pariser Cafés Tournon und Les Deux Magots immer noch weiterschrieb. Deutsche und österreichische Exilanten wie Stefan Zweig, Ernst Toller, Ludwig Marcuse, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und Arthur Koestler waren am Kaffeehaustisch Zeugen eines privaten und gleichermassen geopolitischen Niedergangs. Um den Weltbürger Joseph Roth hatten sich die Wände geschlossen. Das Zimmer, in dem er in den letzten Monaten seines Lebens wohnte, war nicht grösser als das Bett, das darin stand.

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