Unterwegs mit Swjatoslaw Wakartschuk

Der Frontsänger

29:04 Minuten
Swjatoslaw Wakartschuk bei einem Gig an dem letzten Stützpunkt, nur ein paar Hundert Meter von der Front entfernt.
Zum Durchhalten und Mut machen: Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk bei einem Gig an einem Stützpunkt, nur ein paar Hundert Meter von der Front entfernt. © Maria Volkova
Von Jan Vollmer  · 22.01.2023
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Russland bombardiert seit fast einem Jahr die Ukraine. Putin will den Kampfgeist der Menschen brechen. Der größte Rockstar des Landes hält dagegen: Mit Helm, Schutzweste und Gitarre spielt Swjatoslaw Wakartschuk in Bunkern, Baracken und an der Front.
Bei einem Konzert in Berlin, Ende November, singt Swatjoslaw Wakartschuk seinen größten Hit. „Obijmy“ heißt der, „Umarme mich.“ Der Song handelt vom Ende des Krieges, vom Beginn des Frühlings, von einer Seele, die wieder weinen darf. Seit März, seit dem Beginn des groß angelegten Krieges Russlands gegen die Ukraine, ist Wakartschuk aber nicht mehr nur Rockstar. Er hat sich zur Armee gemeldet, und spielt Konzerte an der Front. Er tourt in Bunkern und Schützengräben, mit Schutzweste, Helm und Gitarre.

150 Auftritte in acht Monaten

Mehr als 150 Auftritte in acht Monaten und kein Ende in Sicht. Auch bei seinem Konzert in Berlin ist Wakartschuk mit den Gedanken halb an der Front. “Wir sind dankbar, für alles, was auch Deutschland für uns getan hat. Wir haben die Panzerhaubitze, wir haben Geparden, wir haben das Iris-System. Je mehr militärische Unterstützung wir jetzt bekommen, desto schneller wird dieser Alptraum vorbei sein.”
Der Sänger Warkatschuk hält eine Gitarre in der Hand, auf die ukrainische Einheiten Grüße geschrieben haben.
Ukrainische Einheiten, die Warkatschuk besucht hat, haben Grüße auf seine Gitarre geschrieben.© Maria Volkova
An der Front spielt Wakartschuk seinen größten Hit, die Ballade „Obijmy“, nicht. Seine Mission dort ist: Durchhalten, Energie geben, den Krieg gewinnen. Hier in Berlin, 1600 km von der Front entfernt, frage ich ihn, wie er das überhaupt durchhält, 150 Konzerte in acht Monaten Krieg. Es sei Teil seiner Lebens, seiner selbst geworden, sagt er. Ein Song, den Wakartschuk jetzt oft spielt ist „Misto Marii“ – „Stadt Marias“. Er hat den Song für die Verteidiger von Mariupol geschrieben. Für Swjatoslaw Palamar, einen Kommandeur, der bis zum Schluss im Stahlwerk von Mariupol festsaß.

Nein, auch Schiffsgeschütze
Werden meinen Traum nicht zerschlagen
Den Glauben wird mein Herz niemals verraten
Auf ewig wird stehen
Die rechtschaffene Stadt Marias
Solange über dem stolzen Asow
Die Sonne aufgeht

Aus „Misto Marii“ – „Stadt Marias“ für die Verteidiger in Mariupol

Wladimir Putin versucht, die Ukraine zu demoralisieren. Mit Angriffen auf die Infrastruktur terrorisiert er das ganze Land und versucht, es zur Aufgabe zu zwingen.

Ein ukrainisches Symbol

Wakartschuk ist der bekannteste Rockstar des Landes, ein ukrainisches Symbol. Seine Songs werden an Lagerfeuern und in Fußgängerzonen gespielt. Mit Konzerten an der Front und vor geflüchteten Ukrainer:innen im Ausland, versucht er die Moral aufrecht zu halten. Die Fotografin Maria Volkova und ich haben Wakartschuk bei seiner Tour begleitet, in der Ukraine und in Deutschland. Ende Mai 2022 treffen wir ihn für das erste Interview in einem Café in Kyjiw.
Ein junger Soldat schaut nach Wakartschuks zweitem Gig in die Kamera. Die anderen schauen sich Fotos an, die sie von Wakartschuk gemacht haben.
Freude in den Gesichtern: Sodaltinnen und Soldaten nach Wakartschuks zweitem Gig.© Maria Volkova
“In den letzten zwei Monaten war ich an so vielen Orten. Ich kann dir nur von der letzten Woche erzählen: In der letzten Woche habe ich in Charkiw angefangen, ich habe meinen Geburtstag dort verbracht, das war am Samstag. Ich war dort an der Front, ich habe meinen Geburtstag mit unseren Soldaten verbracht. Am nächsten Tag bin ich in den Osten gefahren. Ich kann dir die genauen Orte nicht sagen, aber es war and er Front. Nicht weit von Lyssytschansk, nicht weit von Slowjansk und anderen Orten. In den drei Tagen haben wir Menschen dort getroffen und sind dann zurückgekommen. Es waren vier Tage im Osten, dann sind wir zurückgekommen.”

Der Rockstar als Präsidentschaftskandidat

Swjatoslaw Wakartschuk hat einen Doktor in Physik. Er hat 2005 bei der ukrainischen Version von „Wer wird Millionär“ gewonnen und die Million an Waisenkinder gespendet. Bevor Swjatoslaw Wakartschuk sich im März bei der Armee gemeldet hat, hat er mit seiner Band Okean Elzy das größte Konzert der Ukraine gespielt. Er ist 2014 bei der Revolution auf dem Maidan aufgetreten, und hat eine Partei gegründet, die immer noch im Parlament ist. Er wurde kurz als Präsidentschaftskandidat gehandelt, hat sich dann aber aus der Politik zurückgezogen.
Viele seiner Songs handeln von Liebe. Viele wirken aber auch, als wären sie für Momente wie diese geschrieben worden: Zum Durchhalten und Mut machen im Krieg. “Die meisten Lieder handeln vom Krieg oder haben Allegorien dazu: Unser Song 'Everest' handelt von jemandem, der oder die ihren eigenen 'Everest' besteigt. Für mich, für die Ukraine, ist der Everest jetzt ein Sieg. Schwierig, aber möglich. Du musst es nur machen.”

Auftritt in Dnirpo

Am Tag nach dem Interview will Swjatoslaw Wakartschuk wieder an die Front. Und wir können ihn begleiten. Nur: Wakartschuk weiß selbst noch nicht, wohin genau die Reise geht. Um Wakartschuk an der Front zu treffen, fahren die Fotografin Maria und ich am nächsten Morgen mit dem Zug nach Dnipro, eine Stadt 500 Kilometer südöstlich von Kyjiw. Soldat:innen sitzen mit uns im Waggon, zusammen mit Familien, die in die Stadt zurückkehren. Die Luftalarmsirenen heulen in Dnipro lauter als in der Hauptstadt. Nicht nur kurz, sondern für die ganze Zeit des Luftalarms.
Ab 23 Uhr ist Sperrstunde. Abends wird die Straßenbeleuchtung ausgestellt. „Switlomaskuwannja“, auf Deutsch „Lichtmaskierung“, heißt die Verdunklung auf Ukrainisch. Abgesehen von den Sirenen sind die Nächte still. Man kann die Sterne sehen und hört das tiefe, regelmäßige Rattern schwerer Züge in der Dunkelheit. Dnipro ist eine logistische Drehscheibe für die Fronten im Süden und Osten.
Erst abends um acht schreibt Wakartschuk eine Nachricht, dass wir ihn am nächsten Morgen treffen können – um neun Uhr, an einer Tankstelle, über hundert Kilometer weiter östlich, nicht weit von der Front. Ein Fahrer aus der Gegend verspricht, uns dorthin zu bringen. Wir fahren um 5 Uhr los, direkt nach dem Ende der Sperrstunde.
Wakartschuk wartet an einer Tankstelle an einem der letzten größeren Orte vor der Front. Es gibt kein Benzin mehr, dafür ist das Kühlregal komplett mit Energydrinks gefüllt.
Oberst Zimbor, Kommandeur der Brigade, ist persönlich gekommen, um Wakartschuk zu begrüßen. Er ist einen halben Kopf kleiner, trägt kurz geschnittenes, helles Haar, einen Bart, eine ausgeblichene Flecktarn-Uniform und Kampfstiefel. An der Frontplatte seiner Schutzweste hat er einen gelbblauen Patch, eine Pistole und ein schwarzes Messer angebracht. Für das Foto mit Wakartschuk steht er breitbeinig, zeigt mit der rechten Hand ein „Daumen hoch“. Aljona, ebenfalls in Kampfstiefeln, mit blondem Zopf und Dusty-Pink-Nagellack, checkt unsere Papiere.

Selfie mit Kämpfern an einem Checkpoint

Die gepanzerten Wagen rasen über die Schlaglöcher der Landstraßen, umkurven Erdhaufen im Slalom. Nach etwa einer halben Stunde stoppen wir am Straßenrand, direkt vor einem Checkpoint. „Russischer Soldat, fick dich“ steht auf einem großen, handgeschriebenen Schild, das in Richtung der Landstraße an den Betonklötzen angebracht wurde.
„Russischer Soldat, fick dich“ steht auf dem Schild an einem Checkpoint.
„Russischer Soldat, fick dich“ steht auf dem Schild an einem Checkpoint.© Maria Volkova
Swjatoslaw Wakartschuk steigt für ein Selfie aus. Die Kämpfer der Territorialverteidigung wirken älter als er. Ihre Gesichter sind dunkel von den Monaten, die sie unter freiem Himmel hinter den Sandsäcken stehen. Eine Mischung aus Freude und Überraschung ist auf ihren Gesichtern zu erkennen, auf Swjatoslaw Wakartschuks Gesicht Anspannung. Das Selfie und die Umarmung dauern vielleicht 90 Sekunden.
Die Straße führt uns zum Palast der Kultur in Nowohrodiwka. Der Ort wirkt leer. Von den Palastsäulen blättert die graue Farbe ab. Außer dem Bürgermeister in einem weißen Poloshirt sind fast nur Soldaten zu sehen.
Bevor Wakartschuk seine Gitarre auspackt, hält er einen Vortrag, dankt der ukrainischen Armee. Er erinnert auch an den Holodomor, eine aus Moskau organisierte Hungersnot in der Ukraine in den 30er-Jahren, die das Europäische Parlament mittlerweile als Völkermord einstuft. „Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte, die Geschichte ist für uns, Gott ist mit uns, der Sieg wird mit uns sein“, leitet Wakartschuk sein ersten Song ein und ruft dann „Ruhm der Ukraine!" Und die Soldaten rufen zurück: „Ruhm den Helden!“

"Er ist mein Idol"

Ein junger Soldat mit dunklen Haaren, dichtem Bart und einem Aufnäher mit zwei gekreuzten Säbeln auf der Schutzweste hat sich einen Platz in der ersten Reihe direkt vor der Bühne gesichert, seine Kalaschnikow auf den Boden gestellt, die Mütze über den Lauf gehängt. Während die anderen Fotos machen und filmen, schaut er zu Wakartschuk hinauf, den Kopf leicht schief, leicht in den Nacken gelegt. Bei Wakartschuks erstem Song, „Segelboot“, wischt er sich mit der linken Hand unauffällig die Augen.
Nach dem Konzert finden wir den Soldaten aus der ersten Reihe mit einem Kameraden draußen bei den Säulen in der Vormittagssonne.
Fotografin: „Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie, Sie sind uns aufgefallen, können wir Ihnen ein paar Fragen stellen? Wir war es für Sie?"
Soldat: „Er ist mein Idol, ich höre es oft, ich habe ein paar Lieblingslieder. 'Asow' hat er vor kurzem geschrieben, und ich höre das auf meinen Kopfhörern bevor ich schlafen gehe.“
Fotografin: „Dann weinen sie, da kommen selbst den harten Männern die Tränen.“
Soldat: „Die Lieder berühren mich und bewegen mich. Er ist ja oft hier an der Front und diese Lieder werden hier geboren.“
Reporter: „Was bedeutet es für dich, dass er hier ist?“
Soldat: "Das hebt den Kampfgeist. Selbst Künstler, die ausreisen könnten, und vergessen, wie es uns geht, machen das hier zusammen mit uns durch, heben unseren Kampfgeist. Das bedeutet viel für uns."
Reporter: "Wussten Sie, dass er hier spielen würde?"
Soldat: "Ich wurde heute Morgen geweckt, man hat mir gesagt: Es gibt ein Konzert von Slawa Wakartschuk. Ich habe schnell meine Sachen zusammengesammelt, Benzin besorgt und jetzt sind wir hier."
Reporter: „Was ist deine Aufgabe?“
Soldat: „Ich bin Panzerabwehr. Wir schießen auf Panzer.“
Reporter: „Habt ihr keine Angst dabei?“
Soldat: „Angst? Wir haben alle Angst, aber es muss getan werden. Angst. Wenn du Angst hast, hat es noch nicht angefangen. Wenn es losgeht hast du keine Angst mehr. Wenn es losgeht, machst du, was du gelernt hast, effektiv sein, die Aufgabe des Kampfes erfüllen.“

Ungebrochener Glaube an den Sieg

Im Mai 2022 sieht es nicht gut aus, für Soldaten wie Wladislaw, für die ukrainische Armee. Mariupol wurde eingenommen. Die ukrainische Armee zieht sich zurück. In westlichen Medien ist von der russischen „Walze“ die Rede, von größerer Feuerkraft. Aber egal, welche Nachrichten gerade vom Schlachtfeld kommen: Wenn wir in Kyjiw, in Dnipro oder in Lwiw Menschen fragen, wie sie glauben, dass es weitergeht, bekommt man nur eine Antwort: „Wir werden gewinnen. Einen anderen Ausgang kann es nicht geben.“
Swjatoslaw Wakartschuk vor dem Kulturpalast in Nowohrodiwka, wo er den ersten Gig des Tages spielt.
Swjatoslaw Wakartschuk vor dem Kulturpalast in Nowohrodiwka, wo er den ersten Gig des Tages spielt.© Maria Volkova
Wakartschuks nächster Stopp ist ein Militärstützpunkt nicht weit von Nowohrodiwka. Walerij, der Kommandeur dort, ist ein großer Mann mit dunklem Bart, tätowierten Armen, Pistolenholster über dem T‐Shirt und Apple Watch. Er lässt die Soldat:innen zur Begrüßung antreten. Wakartschuk steht vor ihnen, bedankt sich, macht einen Witz über den Hund, der neben ihm auf dem Schotter des Exerzierplatzes liegt.
Die Soldat:innen des Stützpunkts sehen müder aus als ihre Kamerad:innen an den Checkpoints in den Städten. Viele haben Augenringe und dreckige Fingernägel – als hätten sie gerade noch Stellungen gegraben.
Kommandeur Waleri führt Wakartschuk in eine Lagerhalle. Der Boden ist staubig von den Stiefeln der Soldaten, die Fenster sind mit Planen abgehangen. Wakartschuk packt seine Gitarre auf einem Tisch aus, der aus Getränkekisten gebaut wurde. Die Soldat:innen nehmen artig im Halbdunkel auf Bierbänken Platz. Sein zweiter Song ist „Koli mi stanem soboju“. „Es kommt der Tag, an dem wir wir selbst werden“, bedeutet der Refrain übersetzt. Der Song handelt von dem Tag, an dem das Leid endet. Nach dem Konzert treffen wir die Soldatin Zhanna. Sie trägt lila Nagellack zur Uniform.

"Wir brauchen Musik wie Luft zum Atmen"

Reporter: „Was bedeutet das Konzert für Sie?“
Zhanna: „Ich liebe es. Ich wollte mir das Lied 'Obijmy' wünschen."
Reporter: „Warum gerade dieses Lied?“
Zhanna: „Es gefällt mir von allen am besten.“
Reporter: „Hören Sie viel Wakartschuk?“
Zhanna: „Sehr viel. Seit 2014 war ich Freiwillige. Mittlerweile bin ich in der Brigade und diene. Meine beiden Kinder dienen auch.“
Reporter: „Wie ist das Leben auf dem Militärstützpunkt für Sie?“
Zhanna: „Es ist gut, wenn es nicht gut wäre, wäre ich hier nicht geblieben. Ehrlich. Alles ist gut. Alles ist bei uns gut. Im Frieden wäre es natürlich besser.“
Zhanna nimmt uns mit in ein schmales, längliches Zimmer neben der Halle, in der das Konzert stattgefunden hat. Die Fenster sind mit Teppichbahnen mit Blumenmuster abgehängt. Zhanna teilt sich das Zimmer mit ihrer Kameradin Olena. Wolldecken liegen sorgfältig gefaltet auf den Betten, auf einem spielt eine Bande kleiner Katzen.
Zhanna: „Hier wohnen wir.“
Reporter: „Wohnen Sie hier zusammen?“
Zhanna: "Ja, Lena, Natalie. Das ist unser Frauenzimmer. Wollen Sie Tee oder Kaffe? Oder wollen Sie gleich weiter?"
Reporter: „Ich glaube, das schaffen wir nicht, wir müssen gleich weiter.“
Reproter: "Elena, kann ich Sie fragen, wie das Konzert für Sie war?“
Elena: „Mir hat es sehr gefallen. Vielen Dank, dass ihr überhaupt hier seid!“
Reporter: „Wir sind nur Journalisten!“
Elena: „In jedem Fall, dass ihr hier seid! Wir brauchen das alles, uns fehlt es, Leute zu sehen. In einem Monat bin ich seit sechs Jahren hier. Wir brauchen sowas wie Luft zum Atmen. Unser Kommandeur ist vor etwa zwei Monaten gestorben. Er hat solche Momente oft organisiert. Wir haben uns sehr darüber gefreut. Jetzt brauchen wir sowas. Es ist wie Luft zum Atmen für uns, hebt den Geist, es ist großartig, wirklich großartig. Wir wollen alle tanzen."
Elena hat vor sechs Jahren mit ihrem Mann in Mariupol eine Wohnung gekauft. Beide waren gerade hierher gezogen, als die Russen anfingen, die Stadt zu beschießen. Jetzt haben sie nichts mehr. 

Dumpfe Explosionen während des Konzerts

Aljona, die Pressesprecherin der Brigade, fährt bei uns im Auto mit. Von hier aus ist es noch eine halbe Stunde bis zum Niemandsland der Front. Aljona trägt jetzt im Auto auch eine Schutzweste mit Magazinen vor dem Bauch. An der Straße werden Gräben ausgehoben. Ein Minibus mit Einschusslöchern kommt uns entgegen. Ein ausgebrannter Panzer steht am Straßenrand, zerstörte Häuser.
Wir parken in einem zerschossenen Hangar bei der Front, sodass die Autos von oben nicht sichtbar sind, und gehen ein paar Schritte über einen Schotterweg, zwischen Büschen hindurch, einige Stufen hinauf, betreten einen vielleicht 45 Quadratmeter großen, dunklen Raum. Die Wände sind beige und fleckig, an einigen Stellen blättert der Putz ab. Es ist hier der gefährlichste Auftritt von Wakartschuk: Wir sind nur ein paar Kilometer weit von dem ehemaligen Flughafen von Donezk entfernt - es ist ein Stützpunkt, den die ukrainische Armee schon seit Jahren verteidigt. Während Wakartschuk spricht und singt, hören wir die dumpfen Explosionen der Artillerie im Hintergrund. Wakartschuk spielt hier den Song „Everest“.
Rockstar Wakartschuk nach seinem letzten Gig des Tages, zwischen zwei Soldaten, nicht weit von der Front.
Appelliert immer wieder an den Kampfgeist: Rockstar Wakartschuk nach seinem letzten Gig des Tages, zwischen zwei Soldaten, nicht weit von der Front.© Maria Volkova
Darin appelliert er wieder an den Kampfgeist, den Durchhaltewillen der Sodatinnen und Soldaten. „Auch wenn unsere Augen brennen durch den Rauch“ heißt es im Refrain, „ist das Feuer doch unser Bruder“. Den nächsten Song, „Misto Mari“, erzählt Wakartschuk, habe er für den Kommandeur und die Soldaten aus Mariupol geschrieben. Für einen Kommandeur des Asov-Battalions.
„Wenn ich singe ‚Der Himmel donnert über dem Asow, der Feind kämpft mit Bomben‘, und zur gleichen Zeit hören wir den Klang von Granaten, habe ich mich beruhigt, in dem ich mir gedacht habe: Das sind unsere Jungs, die da gerade schießen. Ich achte auf die Soldaten. Und wenn die ruhig sind, ist alles in Ordnung.“
Soldat: „Ja, die Granaten waren ausgehend. Die ankommenden hören wir nicht. Und wenn wir sie hören, brauchen wir keine Angst mehr haben.“
Wakartschuk: „Das habe ich mir gedacht. Wenn sie mit den Hurrikan-Raketen schießen, hast du keine Zeit mehr zu hören. Dann ist es nur 'Bah' und das ist alles.“

Eine Flagge mit Unterschriften als Geschenk

Wakartschuks letzter Song ist „Vase Bude dobre“ – „Alles wird gut werden“. Nach dem Konzert überreicht der Kommandeur „Zimbor“ Wakartschuk als Geschenk eine ukrainische Flagge mit Unterschriften der Soldat:innen und eine Wanduhr.
Reporter: „Eine letzte Frage: Wenn er singt: 'Alles wird gut werden', denken Sie auch, dass alles bald gut werden wird?“
Kommandeur Zimbor: „Wir wissen es. Wir wissen es. Einen anderen Ausgang wird es nicht geben. Niemand kann daran zweifeln. Wir haben gesehen, was in Chernihiv, Butscha, Hostomel, Mariupol und Rubizhne passiert ist. Und ich sehe was in Mariinka und Adeevka passiert. Auch in Severodonetsk gibt es sehr heftige Kämpfe. Die Okkupanten werden nicht aufhören. Wenn wir sie jetzt nicht stoppen, wird es nur schlimmer. Und wir haben alles dafür. An einigen Orten warten wir nur auf das Kommando.“
Im Frühling und Sommer sah es nicht gut für die ukrainische Armee aus. Putins Armee  hatte schlicht mehr Feuerkraft – und war bereit, mehr Soldaten zu opfern. Doch gegen Ende des Sommers gelingt der ukrainischen Armee tatsächlich eine Wende: Mit überraschenden Angriffen werden Nachschubwege, teilweise tief im russisch kontrollierten Gebiet, angegriffen. Die ukrainische Armee nimmt große Teile des Geländes ein, dass Russland in den ersten Kriegsmonaten erobert hatte, unter anderem die Hafenstadt Cherson.
Statt militärische Ziele anzugreifen, lassen Wladimir Putin und seine Generäle ab dem Herbst die zivile Infrastruktur in der Ukraine bombardieren. Vor dem Winter greifen sie gezielt Heizkraftwerke und das Stromnetz an, es ist ein Zermürbungskrieg geworden.

Das Ende vom Anfang

Wir haben Wakartschuk im Mai in der Ukraine getroffen, einmal im August in der Berliner Columbiahalle, und im November, Backstage im Berliner Tempodrom. Während die Fronten sich verschieben und der Krieg ein anderer geworden ist, ist an Wakartschuk keine Veränderung feststellbar. Wie aber hält er das durch? Noch dazu als frisch gebackener Familienvater. Im Sommer 2022 kommt seine Tochter zur Welt.
“Ich denke nicht nur an sie. Noch schmerzvoller ist es für mich, meinen Sohn nicht zu sehen. Er fängt an zu sprechen und wächst sehr schnell. Weißt du, wenn sie nur ein paar Monate alt sind, kann man sich beruhigen und sich sagen: Sie merken es noch gar nicht. Aber er versteht es. Er vermisst mich schon und fragt die ganze Zeit nach seinem Vater. Es ist nicht leicht.”

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Reporter: „Aber du machst weiter, immer weiter, bis …”
Wakartschuk: „Bis zum Sieg. Das ist meine Motivation, meine Mission. Du hast es gesehen. Ich denke diese Menschen brauchen diese Treffen und Konzerte. Es hilft ihnen. Wenn ich ihnen helfen kann, weiter zu machen, mache ich das so lange wie möglich. Mittlerweile, nach entscheidenden Siegen wie denen in Charkiw und in der Region Cherson, da sehen wir schon Licht am anderen Ende des Tunnels. Churchill hat mal gesagt: Es ist nicht das Ende. Es ist nicht der Anfang vom Ende. Aber es ist das Ende vom Anfang. Das ist, was gerade in der Ukraine passiert.“

Aufladestation der ukrainischen Community

Kurz nach dem Interview tritt Swjatoslaw Wakartschuk auf der Bühne ans Mikrofon und verströmt auf Anhieb Energie. Das Konzert fühlt sich an, wie eine Aufladestation der ukrainischen Community für sich selbst.
Auf dem Konzert singt Wakartschuk seinen Hit "Obijmy" als Zugabe. Wakartschuk hat ein Streichquartett namens „Mria“ aus der Ukraine mitgebracht. „Mria“ bedeutet „Traum“ auf Ukrainisch. Der Song vom Ende des Krieges, vom Beginn des Frühlings, von der Seele, die wieder weinen darf – rührt viele im Publikum zu Tränen. Und Wakartschuk holt eine Zuschauerin namens Katja zum Mitsingen auf die Bühne.
Nach dem Konzert, im Backstage Bereich, treffe ich den 29-jährigen ukrainischen Soldaten Andrij. Er sitzt im Rollstuhl, eine Granate hat 20 Zentimeter seiner Wirbelsäule zertrümmert. Er ist zur Behandlung in Deutschland und hat hier Madeleine kennengelernt.
Übersetzerin: „Sie werden heiraten, in einem Monat.“
Madeleine: „Wir haben uns vorgenommen, wir heiraten dann, wenn er auf unserer Hochzeit spielt. Ein Bekannter hat gesagt, er will sich darum kümmern. Wir sind gespannt. Aber irgendwie ziehen wir es schon durch.“
Reporter: „Wird Obijmy euer Hochzeitslied?"
Madeleine: „Definitiv, definitiv, das wird unser Hochzeitstanz.“
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