Gezielte Schläge gegen die Stromversorgung: Russlands Raketenterror macht den Ukrainern das Leben schwer

Gezielte Schläge gegen die Stromversorgung: Russlands Raketenterror macht den Ukrainern das Leben schwer

Seit Oktober zerstört Moskau systematisch die ukrainische Infrastruktur, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Dies stellt die Ukrainer vor enorme Probleme, am Mittwoch kam es zu grossflächigen Blackouts.

Ivo Mijnssen (Text) und Dominic Nahr (Bilder), Kiew und Kriwi Rih
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Die abendliche Heimkehr der Ukrainer gleicht einer Prozession von Glühwürmchen. In den dunklen Hinterhöfen tanzen kleine Lichter, allein und in Gruppen. Es sind Menschen, die mit ihren Handys, Stirn- und Taschenlampen den Weg von der Bushaltestelle zum Hauseingang erhellen. Rund um die Kiewer Siedlung Posnjaki ist die Strassenbeleuchtung ausgeschaltet, es fehlt der Strom.

Seit dem 10. Oktober nimmt Russland gezielt die wichtigsten Teile der Infrastruktur ins Visier. Seither sind die grossen Städte regelmässig dunkel. Auch am Mittwoch kam es zu einem verheerenden Angriff, der zu Notabschaltungen des Stroms in allen Teilen des Landes führte. Sämtliche Atomkraftwerke wurden vom Netz genommen, laut dem nationalen Netzbetreiber Ukrenerho sind praktisch sämtliche grosse Elektrizitäts- und Wasserkraftwerke beschädigt. Als Folge gab es auch im Nachbarland Moldau Blackouts.

Bereits vor einer Woche hatte Moskau in der bisher grössten Attacke über 90 Raketen- und Drohnenangriffe verübt. Auch wenn die Spezialisten die Reparaturen so schnell wie möglich ausführen, müssen sich die Bewohner des kriegsversehrten Landes auf einen kalten und dunklen Winter gefasst machen.

Entschlossenheit, Fatalismus und Angst

Rückblick auf die Angriffe von letzter Woche: Zwei junge Bewohner des Viertels Posnjaki, dessen mächtige Plattenbauten wie dunkle Felsen neben der von Autoscheinwerfern erleuchteten Hauptstrasse stehen, kehren gerade heim, bewehrt mit Pizza und Schawarma. «Wir setzen uns jetzt in der dunklen Wohnung auf den Boden, zünden Kerzen an und spielen Monopoly», meint der eine im Vorbeigehen. «Unsere Jungs sitzen in den Schützengräben, da können wir Unannehmlichkeiten ertragen», ruft er in die Dunkelheit, bevor er in den zehnten Stock hochsteigt. Der Lift funktioniert nicht.

In der georgischen Bäckerei an der nahen Anna-Achmatowa-Strasse verkauft Pascha Parnowski gerade die letzten Chatschapuri und Kubdari, typische Brotgerichte dieses südkaukasischen Landes. 20 Stück hat er heute gebacken, da der Strom lediglich zwei Stunden lang eingeschaltet war, normalerweise sind es 60. Nun sitzt er im dunklen Lokal. Nur sein Fahrradlicht brennt auf einem Regal.

Pascha Parnowski verkauft in der Kiewer Siedlung Posnjaki wegen des Stromausfalls nur 20 statt wie normal 60 georgische Backwaren.

Pascha Parnowski verkauft in der Kiewer Siedlung Posnjaki wegen des Stromausfalls nur 20 statt wie normal 60 georgische Backwaren.

«Planen kann man überhaupt nichts», klagt der 18-jährige Student, den die Stromknappheit auch beim Fernunterricht stark behindert. In der Nacht davor haben ihn die Explosionen nicht ruhig schlafen lassen. «Ich hatte grosse Angst», gesteht Parnowski, «die Situation ist schlimm.» Trotzdem gewöhne man sich daran, in einer dunklen Wohnung zu sitzen, ohne warmes Wasser und ohne Toilettenspülung.

Russlands gefährliches Detailwissen

Wasser, Strom und Wärme sind im ukrainischen Versorgungssystem eng verbunden. So liefern Kraftwerke an Flüssen viel Energie, während Wasser ohne Elektrizität weder die oberen Stöcke der Hochhäuser erreicht noch gereinigt werden kann. Die Russen nehmen deshalb Wärmekraftwerke und Transformatorenstationen ebenso ins Visier wie Dammschleusen und Pumpwerke.

Offenbar beraten von Experten, wissen sie genau, wo sie zuschlagen müssen, da das Netz zu Sowjetzeiten konzipiert wurde und die Pläne in Moskau gelagert sind. Wie der ukrainische Energiespezialist Andrian Prokip erklärt, ist diese Baugeschichte in der gegenwärtigen Lage aber auch ein Vorteil für sein Land: «Die Sowjets priorisierten die Robustheit des Systems, das sogar im Falle eines Nuklearkrieges einsatzfähig bleiben sollte.» Zudem ging der Stromverbrauch wegen der postsowjetischen Deindustrialisierung in den letzten 30 Jahren um die Hälfte zurück und seit dem 24. Februar noch einmal um ein Drittel.

Russlands Krieg hat die Infrastruktur dennoch empfindlich geschwächt. Laut Prokip waren bereits vor Moskaus koordinierter Kampagne gegen diese zivilen Ziele 15 von einst 56 Gigawatt Gesamtkapazität weggefallen – durch die Besetzung von Kraftwerken und die Abschaltung des AKW Saporischja. Über die weiteren Verluste gibt es keine genauen Zahlen. Der CEO von Ukrenerho, Wolodimir Kudrizki, sprach jedoch von der «ernstesten Lage in unserer Geschichte». Andrian Prokip schätzt, dass das System bei Spitzenlast eine Stromlücke von mindestens zwischen 10 und 20 Prozent aufweist.

Seit den systematischen Attacken Russlands auf das ukrainische Stromnetz steckt Kiew regelmässig im Dunkeln.

Seit den systematischen Attacken Russlands auf das ukrainische Stromnetz steckt Kiew regelmässig im Dunkeln.

Auf den Strassen sind Busse und Ampeln neben Taschenlampen und Autoscheinwerfern die einzigen Lichtquellen.

Auf den Strassen sind Busse und Ampeln neben Taschenlampen und Autoscheinwerfern die einzigen Lichtquellen.

Ende Oktober unterbrach eine Attacke temporär 80 Prozent der Wasserversorgung in Kiew. Diese wiederherzustellen, gehört jeweils zur ersten Priorität der Verwaltungen, während die Stromausfälle oft länger dauern: Die Hauptstadtregion, die wegen ihrer Grösse und Bedeutung im Fokus der Angriffe steht, operiert seit Wochen während mehrerer Stunden täglich mit geplanten Abschaltungen. Wenn das Hochspannungsnetz überladen ist, durch Schäden oder Ausfälle, nimmt der nationale Betreiber Ukrenerho zusätzlich regionale Notabschaltungen vor, um ein totales Blackout zu vermeiden.

Selenskis Heimatstadt auf Sparflamme

Dass sich die Lokalregierungen dagegen nur begrenzt wappnen können, weiss auch Olexander Wilkul, der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der südukrainischen Industriemetropole Kriwi Rih. Der 48-Jährige sitzt in seinem Büro am Ende eines dunklen Gangs im Stadthaus. «Wir bereiten uns darauf vor, den schwierigsten Winter der jüngeren Geschichte zu überleben», meint Wilkul, der vor dem Krieg als eher prorussisch galt, sich seither aber als entschlossener Verteidiger von Präsident Selenskis Heimatstadt profiliert.

Olexander Wilkul, der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Industriestadt Kriwi Rih, prognostiziert einen ausserordentlich schwierigen Winter.

Olexander Wilkul, der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Industriestadt Kriwi Rih, prognostiziert einen ausserordentlich schwierigen Winter.

Selenskis Heimatstadt Kriwi Rih hat fast alle Aussenbeleuchtungen ausgeschaltet und die Frequenz des öffentlichen Verkehrs stark reduziert.

Selenskis Heimatstadt Kriwi Rih hat fast alle Aussenbeleuchtungen ausgeschaltet und die Frequenz des öffentlichen Verkehrs stark reduziert.

Der Stahl- und Bergbau-Stadt kommt zugute, dass die Industrie angesichts fehlender Exportmöglichkeiten über das Schwarze Meer nur auf Sparflamme produziert. Jene Öfen und Zechen, die noch in Betrieb sind, arbeiten vor allem nachts. In der gesamten Ukraine ist der Strombedarf seit Februar um etwa ein Drittel zurückgegangen. Kriwi Rih hat die meisten Strassenbeleuchtungen ausgeschaltet, um Strom zu sparen. Der Park vor dem Stadthaus liegt im Dunkeln, und die Frequenz des öffentlichen Verkehrs wurde halbiert. Reicht das? «Eigentlich nicht», gesteht Wikul. «Aber noch mehr reduzieren können wir nicht.»

Die Stadtverwaltung sorgt aber auch für ein Blackout vor. «Spitäler und die Wasserversorgung haben Priorität», erklärt Wilkul, während er eine Zigarette nach der anderen raucht. Dort habe man Generatoren installiert, damit sie bei einem Stromausfall weiter funktionierten. Zudem hat Kriwi Rih wie viele Städte «Wärmestationen» eingerichtet, wo sich die Leute im Winter versammeln können. 71 sind es hier.

Mangelware Generatoren

Die Stadt würde gern noch mehr einrichten, schafft es aber nicht, zusätzliche Generatoren zu beschaffen. Da auch Privatpersonen und Unternehmen auf diese autonomen Energiequellen setzen, ist der ukrainische Markt völlig leer gekauft. Die Filiale der Elektronikkette «Eldorado» im Zentrum Kriwi Rihs kann sie nicht einmal mehr bestellen. Auch Stabilisatoren zur Absicherung von Geräten gegen Fluktuationen im Netz sind nicht mehr verfügbar, die Preise für Kerzen und Taschenlampen haben sich vielerorts verdreifacht.

Als Reaktion auf den russischen Terror haben die Europäer ihre Hilfe jüngst noch einmal erhöht. Die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung diskutiert über einen Notkredit von mehreren hundert Millionen Euro für Ukrenerho. Die EU erklärte, sie habe 2,5 Milliarden Euro für die Vorbereitung der Ukraine auf den Winter bereitgestellt. Dazu kommen 800 Generatoren und Ersatzteile für das Stromnetz. Laut Andrian Prokip sind Transformatoren für Hochspannungsnetze besonders schwierig zu beschaffen, da diese hochspezialisierten und langlebigen Teile nur auf Bestellung gefertigt werden. Zudem verwendet Europa teilweise eine andere Technologie als die Ukraine.

Der Alltag in Kiew ist durch die ständigen Angriffe schwieriger geworden, und die Kälte verschärft die Lage zusätzlich.

Der Alltag in Kiew ist durch die ständigen Angriffe schwieriger geworden, und die Kälte verschärft die Lage zusätzlich.

Hoffnung gibt den Menschen, wenn der Strom nach stundenlangen Ausfällen plötzlich zurückkommt und die Lichter in den schwarzen Wohnblöcken wieder angehen.

Hoffnung gibt den Menschen, wenn der Strom nach stundenlangen Ausfällen plötzlich zurückkommt und die Lichter in den schwarzen Wohnblöcken wieder angehen.

Solange es der Ukraine aber nicht besser gelingt, ihre kritische Infrastruktur zu schützen, ist dies primär Symptombehandlung. Zu dieser Kategorie sind auch ukrainische Pläne zu zählen, Trafostationen mit Sandsäcken abzudecken. Kiew fordert deshalb mehr militärische Hilfe aus dem Westen: Die USA, Grossbritannien und Schweden haben jüngst weitere Lieferungen von Systemen zur Luftverteidigung versprochen. Doch weder Raketen noch die billigen iranischen Drohnen, die Russland möglicherweise bald auch selbst in grosser Zahl produzieren wird, können wohl je ganz aufgehalten werden.

Dass Russland letzte Woche erstmals die Gasversorgung angriff, gleichzeitig mit dem ersten Schneefall, lässt sich ebenso als Eskalation werten. Viele Ukrainer heizen mit Gas. Sollte dieses System ebenfalls unter Druck geraten, bedeutete dies eine weitere Belastung für die Elektrizitätsversorgung.

Die nächsten Wochen dürften deshalb für die Ukrainer noch schwieriger werden, zumal die Infrastruktur in jüngst befreiten Gebieten wie Cherson fast völlig zerstört ist. Kiew fragt sich deshalb offen, ob die Menschen dort überhaupt überwintern können oder ob Evakuierungen nötig sind. In der Hauptstadt bleibt der Alltag zwar mühsam, aber immerhin kommt der Strom nach den Ausfällen immer wieder zurück: In der Siedlung Posnjaki jedenfalls erleuchten die Laternen am 16. November um Punkt 19 Uhr unvermittelt wieder die Strassen, und die dunklen Fenster der Wohntürme werden hell. Damit kommt auch das normale Leben zurück – zumindest für ein paar Stunden.

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