Für die Moldau ist die Neutralität eine Überlebensstrategie

Der Kleinstaat im Westen der Ukraine will auf keinen Fall in den Krieg hineingezogen werden. Gebannt ist die Gefahr keineswegs, wie die jüngsten Erklärungen zu den russischen Kriegszielen zeigen.

Volker Pabst, Chisinau
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Ein alter Mann vertritt sich auf dem Gelände des Empfangszentrums am Grenzübergang Palanca die Beine. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse sind in kein Land mehr Schutzsuchende aus der Ukraine geströmt als in die kleine Moldau.

Ein alter Mann vertritt sich auf dem Gelände des Empfangszentrums am Grenzübergang Palanca die Beine. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse sind in kein Land mehr Schutzsuchende aus der Ukraine geströmt als in die kleine Moldau.

Amel Pain / EPA

Die Anspannung ist bereits bei der Einreise in die Moldau spürbar. Nach der Passkontrolle werden ausländische Männer im wehrfähigen Alter systematisch einer gesonderten Befragung unterzogen.

Ob man vorhabe, ins abtrünnige Transnistrien zu reisen oder sogar in die Ukraine zum Kämpfen, will der Sicherheitsbeamte wissen. Bis ins Nachbarland ist es nur eine kurze Fahrt. Man müsse zurzeit sehr vorsichtig sein, schiebt der Beamte entschuldigend nach. Denn mit dem Krieg wolle man nichts zu tun haben.

Die Vorsicht im kleinen, zwischen Rumänien und der Ukraine eingeklemmten Land ist nicht unberechtigt. Sollte Russland einen Vorwand suchen, nach der Ukraine auch die Moldau in den eigenen Orbit zurückzuzwingen, wäre dieser schnell gefunden.

Die Moldauer sprechen rumänisch, es gibt aber auch eine grosse russischsprachige Minderheit, vor allem in Transnistrien. Der Konflikt um die abtrünnige Region jenseits des Dnjestr ist bis heute nicht gelöst. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion hatte Transnistrien die Unabhängigkeit von der Moldau erklärt. Im darauffolgenden Krieg, der vor genau dreissig Jahren seinen Höhepunkt erreichte, sprang die russische Armee den Separatisten zur Seite. Bis heute sind russische Soldaten dort stationiert, Transnistrien ist von Moskau abhängig.

Maja Sandus Balanceakt

Die Parallelen zum Donbass sind offensichtlich. Dazu gehört, dass die Moldau von einer dezidiert prowestlichen Regierung geführt wird. Wo deren Sympathien im Ukraine-Krieg liegen, ist klar. Als kürzlich die Massaker von Butscha bekannt wurden, rief Präsidentin Maja Sandu einen Trauertag aus. Ausserdem verbat das Parlament in der Hauptstadt Chisinau die Verwendung des Sankt-Georgs-Bands.

Die schwarz-gelb gestreifte Schleife ist ursprünglich ein Symbol des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland, gilt nun aber vor allem als Ausdruck der Unterstützung für Putins Kurs in der Ukraine. Man will den prorussischen Kräften im Land vor dem Siegestag am 9. Mai, auch in der Moldau ein Feiertag, keine Gelegenheit zur Profilierung geben. Und wie fast überall in Europa sind auch in Chisinau zahlreiche blau-gelbe Plakate mit Solidaritätsadressen an die Ukraine zu sehen.

Weiter allerdings geht die Führung des Landes nicht. Die Moldau behält ihre in der Verfassung verankerte Neutralität auch im gegenwärtigen Krieg bei. Chisinau hat sich keinen Sanktionen gegen Russland angeschlossen und erlaubt keine Lieferungen von Waffen oder sogenannten Dual-Use-Gütern ins Konfliktgebiet.

Trotz der moldauischen Neutralitätspolitik gibt es im Land viele Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Im Bild die Ruine des früheren Intourist-Hotels National in Chisinau. Über den Farben der ukrainischen Flagge steht auf Russisch geschrieben: «Nein zum Krieg».

Trotz der moldauischen Neutralitätspolitik gibt es im Land viele Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Im Bild die Ruine des früheren Intourist-Hotels National in Chisinau. Über den Farben der ukrainischen Flagge steht auf Russisch geschrieben: «Nein zum Krieg».

Vladislav Culiomza / Reuters

Präsidentin Sandu führt den delikaten Balanceakt gegenüber Russland fort, der ihre Aussenpolitik seit dem Amtsantritt prägt: so viel Westorientierung wie möglich, ohne Moskau nachhaltig zu verärgern. Bis jetzt gelingt das. Die Moldau wird als eines der wenigen europäischen Länder von Russland nicht als «unfreundlicher Staat» geführt. In der russischen Zeitung «Kommersant» erschien kürzlich ein wohlwollender Artikel über die Neutralität des Kleinstaats.

Ja zur EU, Nein zur Nato

Im Windschatten Georgiens und der Ukraine stellte zwar auch die Regierung in Chisinau ein EU-Beitritts-Gesuch. Eine Nato-Mitgliedschaft aber steht ausser Frage. Auch Unterstützung zum Ausbau der eigenen Wehrfähigkeit lehnt man ab. Im Fall eines russischen Angriffs werde man sich nicht verteidigen, erklären Regierungsbeamte im Vertrauen, der Übermacht habe man sowieso nichts entgegenzusetzen. Von einer wehrhaften Neutralität kann keine Rede sein.

Chisinau hat den Westen jedoch gebeten, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges abzufedern. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl von 2,5 Millionen hat kein Land mehr Flüchtlinge aufgenommen als die kleine Moldau. Inzwischen stammt in der Moldau jedes zehnte Kind aus der Ukraine.

Eine improvisierte Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge in einer Sportanlage in Chisinau.

Eine improvisierte Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge in einer Sportanlage in Chisinau.

Andrea Mancini / Imago

Auch die moldauische Agrarwirtschaft spürt die Auswirkungen des Krieges. Die Weinindustrie produziert zwar bereits seit längerem für den Weltmarkt. Doch viele Obstbauern des einst als Garten der Sowjetunion bekannten Landes sind weiterhin nach Russland ausgerichtet. Die Exportroute über die Ukraine ist nun blockiert. Aussenminister Nicu Popescu bezeichnet sein Land als den «verletzlichsten Nachbarn der Ukraine». Die hundertprozentige Abhängigkeit von russischem Gas ist ein weiterer Grund dafür.

Der Hilfsbedarf wurde erkannt. Unter deutscher Federführung wurden diesen Monat 690 Millionen Euro für die Moldau gesprochen. Anders als fast überall sonst in Mittelosteuropa sei man in Chisinau mit der deutschen Krisendiplomatie zufrieden, sagt ein westlicher Diplomat.

Auch Tiraspol setzt auf Neutralität

Der Konflikt um Transnistrien bleibt für das Land ein Unsicherheitsfaktor. Trotz der starken Abhängigkeit von Moskau geht allerdings auch die Führung in Tiraspol, der Hauptstadt der abtrünnigen Region, auf grösstmögliche Distanz zum Krieg in der Ukraine. So hat die Regierung von Präsident Wadim Krasnoselski die Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk bisher etwa nicht anerkannt.

Vielmehr ist man peinlich darauf bedacht, nicht als Teil der russischen Kriegslogistik betrachtet zu werden. Berichte über den Ausbau des Militärflughafens bei Tiraspol oder die Rekrutierung von Kriegsfreiwilligen in der Region wurden umgehend dementiert. Vollständig ausgeräumt sind sie damit freilich nicht.

Das Erscheinungsbild von Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens, ist vielerorts noch immer stark sowjetisch geprägt.

Das Erscheinungsbild von Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens, ist vielerorts noch immer stark sowjetisch geprägt.

Andrea Mancini / Imago

«Kriegseuphorie gibt es hier keine», sagt der transnistrische Politbeobachter Anatoli Durin im Gespräch. Tatsächlich unterscheidet sich die Berichterstattung in der Tonalität grundlegend von jener russischer Medien. Auch die in Russland allgegenwärtigen Buchstaben V und Z als Symbole der Unterstützung des Kriegs seien in Transnistrien kaum zu sehen, sagt Durin.

Krieg ist schlecht fürs Geschäft

Anders als Südossetien oder Abchasien, deren Flaggen als ebenfalls nicht anerkannte Staatsgebilde in Tiraspol an mehreren Orten solidarisch wehen, verfügt das nicht an Russland angrenzende Transnistrien über einen gewissen aussenpolitischen Spielraum gegenüber Moskau. Im Ukraine-Krieg nutzt man diesen vor allem aus zwei Gründen.

Einerseits birgt der Konflikt auch für Transnistrien Spannungspotenzial. Ukrainisch ist eine offizielle Sprache der abtrünnigen Region. Etwa ein Drittel der 450 000 Einwohner Transnistriens sind Ukrainer und haben familiäre Verbindungen ins Nachbarland, auch Präsident Krasnoselski. Die von der russischen Propaganda betriebene Darstellung der Ukraine als Hort blutrünstiger Nationalisten funktioniert hier nicht.

Die Eisenbahnverbindung von Transnistrien in die Ukraine ist zurzeit unterbrochen. Die ukrainische Armee hat die wichtigste Brücke gesprengt, um russische Truppenverlegungen aus der abtrünnigen Region zu erschweren.

Die Eisenbahnverbindung von Transnistrien in die Ukraine ist zurzeit unterbrochen. Die ukrainische Armee hat die wichtigste Brücke gesprengt, um russische Truppenverlegungen aus der abtrünnigen Region zu erschweren.

Andrea Mancini / Imago

Zudem, und das dürfte noch wichtiger sein, haben die lokalen Eliten kein Interesse an einer Änderung des Status quo. Das Wirtschaftsleben in Transnistrien wird vom Grosskonzern Scherif des Oligarchen Wiktor Guschan dominiert. Der firmeneigene Fussballklub erregte mit seinem Sieg in der Champions League gegen Real Madrid im vergangenen Jahr auch im Westen eine gewisse Aufmerksamkeit.

In Transnistrien führt an Scherif kein Weg vorbei. Am sichtbarsten sind die grossen Supermärkte des Konzerns mit ihren uniformierten Verkäuferinnen, die eine für die gesamte Region sinnbildliche Symbiose aus sowjetischer Ästhetik und kapitalistischer Konsumkultur darstellen.

Aber auch in der Energiepolitik, der Schwerindustrie und vielen anderen Wirtschaftszweigen spricht Scherif ein Wort mit. Eine noch engere Anbindung an Russland würde diese Vorrangstellung gefährden. Der Krieg ist für den Konzern ohnehin ein Verlustgeschäft, nicht zuletzt, weil die Ukraine alle Grenzübergänge gesperrt und die einzige Eisenbahnverbindung gesprengt hat.

Für Transnistrien wie für die Moldau ist die Neutralität im Ukraine-Konflikt eine Überlebensstrategie. Doch diese Position gerät unter Druck. Die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Irina Wereschtschuk sagte kürzlich in einem Interview, Chisinau sitze «auf zwei Stühlen» und leiste nicht genügend Unterstützung.

Das eigene Schicksal ist mit Odessa verknüpft

Die wirkliche Gefahr droht aber freilich aus Moskau. Der russische General Rustam Minnekajew erklärte vergangene Woche, dass Russland in der zweiten Phase des Krieges nicht nur den Donbass, sondern auch den gesamten Süden der Ukraine unter seine Kontrolle bringen wolle. Sollte die russische Grossoffensive im Osten der Ukraine erfolgreich verlaufen, ist demnach als nächster Schritt der Versuch zu erwarten, nach Odessa vorzudringen.

Der Fall der ukrainischen Hafenstadt würde die Ausgangslage für die Moldau dramatisch verändern. Von Odessa sind es nur 60 Kilometer bis zur Grenze. Dass die Invasoren an dieser haltmachten, wäre keinesfalls gegeben.

Wie an den meisten ukrainischen Grenzübergängen Richtung Westen bildeten sich auch in Reni an der Grenze zur Moldau zu Beginn des Krieges lange Schlangen.

Wie an den meisten ukrainischen Grenzübergängen Richtung Westen bildeten sich auch in Reni an der Grenze zur Moldau zu Beginn des Krieges lange Schlangen.

Gilles Bader / Le Pictorium / Imago

In seinen Erläuterungen sagte General Minnekajew, dass ein Vorstoss in die Region den russischen Truppen einen weiteren Zugang nach Transnistrien ermögliche. Auch dort, fügte er in Anspielung auf den Vorwand für den Angriff auf die Ukraine an, sei eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung zu beobachten.

Die kleine Moldau will auf keinen Fall in den Krieg hineingezogen werden. Ob ihr das gelingt, liegt aber nur bedingt in ihrer Hand.