Die Erfahrung der Ohnmacht verändert alles – Seite 1

Als am dritten Kriegstag schon Hunderte in der Ukraine von der russischen Armee getötet worden waren, gingen auf einer Kundgebung in Düsseldorf viele Menschen auf die Knie. In ihrer Trauer. Demütig. Vor Schmerz. Eigentlich war diese Kundgebung von Belarus:innen in NRW zunächst als Protestkundgebung gegen die Diktatur in ihrer Heimat geplant gewesen. Denn Alexander Lukaschenko hatte vor, die belarussische Verfassung so weit ändern zu lassen, dass er für seine im Amt begangenen Taten nicht mehr belangt werden könnte. Verkürzt gesagt: vollumfängliche Immunität für einen Diktator.

Bei gutem Wetter wären bei dieser Aktion in Düsseldorf vielleicht 50 Menschen zusammenkommen. So wie bei allen Kundgebungen davor. Nach anderthalb Jahren Protesten hat man keine Illusionen mehr. Es kam aber anders. Von belarussischem Boden wurden russische Raketen abgeschossen, die Ukrainer:innen töteten. Aus der belarussischen Kundgebung in Düsseldorf wurde eine No-war-Demo, zu der über 5.000 Menschen erschienen. Die Belarus:innen sprachen öffentlich von Scham und Schuld – dass sie es nicht geschafft hatten, Lukaschenko zu stoppen und damit auch den Krieg zu verhindern. Denn wäre Putin ohne Lukaschenko und das Territorium von Belarus als Aufmarschgebiet für seine Truppen in den Krieg gegen die Ukraine gezogen?

Die deutsche Zivilgesellschaft und die Politik sprachen von Solidarität. Als dieses Wort auf der Kundgebung zum ersten Mal fiel, hatte ich Tränen in den Augen. Vor Wut. Abgesehen davon, dass Solidarität gegen russische Panzer und Raketen kein Schutz ist, als Belarussin wusste ich: Wenn das Wort Solidarität das Einzige ist, worauf die Ukrainer:innen hoffen dürfen, dann ist es vorbei mit ihrem Land.

Ich erinnerte mich daran, wie mir jemand per Mail geschrieben hatte, als die Bilder aus Belarus in Deutschland noch für Schlagzeilen sorgten: "Ich verbeuge mich vor den Menschen in Belarus und ihrem friedlichen Protest." Verbunden war das mit der Absage seiner Teilnahme an einer Soli-Kundgebung.

Die deutsche "Schon-klar-Repressionen-Diktatur"-Haltung

Von den Akteur:innen aus der deutschen Friedensbewegung hörte ich zu dieser Zeit bereits weniger fein gefaltete Sätze über die angeblich aus dem Westen gesteuerte und gekaufte Opposition und die Sicherheitskräfte, die für Recht und Ordnung im Land gesorgt hätten. Die vielfältigen, aber dennoch vereinzelten Initiativen in Deutschland, die den friedlichen Protest der belarussischen Zivilgesellschaft unterstützen, erreichten die Allgemeinheit nicht und medial galt die Geschichte längst als auserzählt. Ich tröstete mich damit, dass die "Schon-klar-Repressionen-Diktatur"-Haltung vieler Deutscher gegenüber Belarus für das Elend der Ohnmacht und nicht für Langeweile und Gleichgültigkeit stand. Erst vor Kurzem wurden in einem UNO-Bericht Folter und sexuelle Gewalt in belarussischen Haftanstalten bestätigt. Über anderthalb Jahre nach dem Wahlbetrug am 9. August 2020.

Nicht die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst, sondern die Menschen. Die Wahrheit zeigt sich dagegen nun unverblümt in all den Sanktionen, die plötzlich durch den Ukraine-Krieg gegen Belarus möglich geworden sind. Sie zeigen in aller Deutlichkeit auf, wie eng die belarussische Diktatur – trotz aller ausgesprochenen Nicht-Anerkennungen von Lukaschenko als Präsident – über diese anderthalb Jahre weiterhin mit dem Westen verknüpft und vernetzt gewesen ist.

Noch Ende vergangenen Jahres sprachen sogar die unabhängigen unter den belarussischen Wirtschaftsexperten von einem "Exportwunder". Die fünf Top-Exportländer für Belarus im Januar 2022 waren: Russland, die Ukraine, die Niederlande, Polen, die USA. Die fünf Top-Importländer: Russland, China, die Ukraine, Deutschland, Polen. Dass Lukaschenko für die ganze Welt toxisch geworden sei, redeten sich die Belaruss:innen das ganze Jahr 2021 also nur ein. Die Zahlen sprachen eine andere Sprache. Wie viele Petitionen und Briefe von Belaruss:innen vor einem Jahr noch nötig gewesen waren, um Belarus nur aus dem Eurovision Song Contest auszuschließen!

Das eigene Leid reichte nicht, es musste das der Ukraine hinzukommen: Auf einmal brechen der Europarat oder der Weltradsportverband ihre Beziehungen zu Belarus ab. Wohin sind da eigentlich die Bedenken verschwunden, dass die Sanktionen den "einfachen Leuten" in Belarus schaden würden?

Als die Belaruss:innen gestreikt haben, protestiert haben, für jedes öffentlich ausgesprochene Wort mit ihrer Freiheit bezahlt und gefordert haben, Lukaschenko zu isolieren und alle Beziehungen zu ihm abzubrechen, wurden sie mit Besorgnis und Solidarität getröstet. Damals hätte eine schnelle und wirkliche Isolierung seitens der EU noch etwas bewirken können. Aber politisch galt das Prinzip der Nicht-Einmischung, das zwei widersprüchliche Sichtweisen auf das Land vereinte: Einerseits sei "die Lage" in Belarus eine innere Angelegenheit, andererseits sei Belarus' informelles Einflussgebiet Russland.

Die Einmischung Russlands in die belarussischen Angelegenheiten wurde also als Argument genutzt, selbst diese inneren Angelegenheiten sich selbst zu überlassen. Den friedlichen Protest zu unterstützen, hätte Wladimir Putin provozieren und den Frieden in Europa gefährden können. Belarus wurde gesehen als ein Staat, der eine Regierung, aber keine Souveränität hat. Der Westen hatte Belarus damit längst an Putin verschenkt, und die demonstrierenden Belaruss:innen und ihren Widerstand für ihre Freiheit verraten. 

Seit über anderthalb Jahren frage ich mich daher, wieso die westlichen Demokratien Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit immer noch als lokale Privilegien begreifen, während Diktaturen global agieren und gedeihen können. Wenn jemand in den vergangenen Jahren Freiheit bei der Umgestaltung der Weltordnung genossen hat, dann sind das die Diktaturen. Aber nicht die Menschen, die in ihnen existieren müssen.

Die Mauern an den östlichen EU-Außengrenzen wachsen

Seit der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs in Minsk ist der europäische Luftraum vor Belaruss:innen geschützt, Minsk wird nicht mehr angeflogen. Die Mauern an den östlichen EU-Außengrenzen wachsen, um die EU vor Geflüchteten zu bewahren, die Lukaschenko dorthin bringt. Wenn etwas in dieser Welt wirklich grenzenlos geworden ist, dann sind das nicht die Menschenrechte, sondern der Einfluss der russischen Propaganda, das Verständnis für autoritäre Regierungen und die Unfähigkeit, die Freiheit von der Unfreiheit zu unterscheiden.

Im öffentlichen Diskurs etwa in Deutschland wird ausdrücklich betont, dass es in der Ukraine um "Putins Krieg" geht. Es soll zwischen Russ:innen und Putin fein unterschieden werden. Solche feine Unterscheidung zwischen Lukaschenko und Belaruss:innen bleibt jedoch Menschen aus Belarus verwehrt – beziehungsweise haben sie außer warmen Worten nichts davon, dass man ihren Friedens- und Freiheitswillen anerkennt. Und das, obwohl für die EU, im Unterschied zu Putin, Lukaschenko kein legitimer Präsident ist. Und das, obwohl die Belaruss:innen mehrheitlich gegen den Krieg sind, wie die Umfragen von Chatham House zeigen. Einige Belaruss:innen kämpfen als Freiwillige an der Seite der Ukrainer:innen. Andere dokumentieren die Bewegungen von russischem Militär in Belarus und veröffentlichen Daten dazu. Dann gibt es noch die, die den Schienenverkehr lahmlegen. Und die, die aus ihren Gefängniszellen nichts mehr unternehmen können. Die, die für jeden Kommentar in sozialen Netzwerken ihre Freiheit riskieren. Wie viele das sind? Ich weiß es nicht. Wie auch? Reicht das? Ganz sicher nicht, um den Krieg zu stoppen.

Die 1.108 politischen Gefangenen und die über 40.000 (Stand voriges Jahr, aktuelle Zahlen liegen nicht vor), die die belarussischen Haftanstalten von innen kennengelernt haben, sind Menschen, die nun ganz allein mit dem Regime sind. Und was das bedeutet, kann sich hier niemand auch nur annähernd vorstellen.

Man will zum Beispiel nur einkaufen gehen, findet sich stattdessen plötzlich in einem Verhör wieder und macht unter Zwang irgendwelche Geständnisse über Taten, die man nie begangen hat. Über irgendetwas Extremistisches. Vor laufender Kamera. Einige solcher Geständnisse werden sofort veröffentlicht, andere aufgehoben, für den Fall der Fälle.

Oder man sieht plötzlich, wie der eigene Türspion mit etwas, was nach Kaugummi aussieht, zugeklebt und so die Sicht versperrt wird auf die Leute, die nun die Nachbarwohnung betreten. Dann weiß man, dass dort jemand zu Boden gedrückt und vor der Festnahme geschlagen wird. Man lernt, durch die Wand zu sehen.

Man erfährt, dass in den Haftanstalten die Päckchenannahme für die Häftlinge vorübergehend gestoppt ist, und ahnt nichts Gutes. Niemand wird erfahren, was hinter Gittern passiert. Diese Erfahrung der Ohnmacht wird alles für immer verändern. Man kann zwar noch einatmen. Aber man hat seit über eineinhalb Jahren nicht mehr ausgeatmet.

In Deutschland weiß man über Belarus nun angeblich immerhin, wo es geografisch liegt. Aber wo ist Belarus tatsächlich, wo doch viele von dort wegzukommen versuchen? In Usbekistan, antwortete einer meiner belarussischen Freunde. Einige Belarus:innen würden von Georgien sprechen, viele über Polen oder Litauen erzählen, Tausende hätten über die Ukraine gesprochen – wenn man sie vor dem Krieg gefragt hätte. Nach dem 24. Februar sind wieder Hunderte oder Tausende – niemand weiß es genau – aus Belarus geflohen. Diesmal aus Angst vor der Mobilmachung.

Belarus ist im Exil, aber auch hinter den Mauern, die das Land in ein riesiges Gefängnis verwandelt haben. Nirgendwo auf dieser Welt können die Belaruss:innen sich jetzt sicher fühlen. Denn sie kommen aus einem Staat, der nun ein Mittäterstaat Russlands ist. Und die Welt hat ein kurzes Gedächtnis. Wer ist nun bereit, die Last von Scham und Schuld mit den Belaruss:innen zu teilen?

Ansonsten gibt es tatsächlich nichts Neues: Am vierten Kriegstag sicherte sich Lukaschenko die Immunität, das Land verlor unter anderem das in der Verfassung verankerte Prinzip der Neutralität und beinahe 1.000 Menschen wurden wegen ihres No-war-Protests in Belarus festgenommen. Es gibt weiter Verhaftungen, Drohungen, Hausdurchsuchungen, Folter. Bloß, wer schaut noch hin? Wie denn auch?