Ausgabe Mai 2022

Von »Faschisten« und »Nazis«

Russlands Geschichtspolitik und der Angriff auf die Ukraine

Eine Anwohnerin nahe eines beschädigten Gebäudes in Mariupol, 18.4.2022 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Eine Anwohnerin nahe eines beschädigten Gebäudes in Mariupol, 18.4.2022 (IMAGO / Xinhua)

Der großflächige Einmarsch in die Ukraine lässt auch Russlands Geschichtspolitik der vergangenen Jahre in neuem Licht erscheinen. Sollte damit von langer Hand ein revanchistischer Angriffskrieg zur Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums geplant werden?

Vieles scheint darauf hinzudeuten. Da wäre zum einen die Gründung der Russländischen Historischen und der Russländischen Militärhistorischen Vereinigung im Jahr 2012. Vor allem Letztere bündelte unter dem Zeichen eines staatstragenden Patriotismus erstmals eine Reihe geschichtspolitischer Aktivitäten, die selbst in der Sowjetunion nie von einer zentralen Stelle verwaltet worden waren: Neben verschiedenen Publikations- und Ausstellungsprojekten, paramilitärischen Ferienlagern und ähnlichem gehört dazu etwa der flächendeckende Bau von Kriegs- und Herrscherdenkmälern im gesamten Land. Der Vorsitzende dieser Vereinigung, der ehemalige Tabaklobbyist, Hobbyhistoriker und langjährige Kulturminister Wladimir Medinskij, trat im März und April 2022 als Russlands Vertreter bei den „Friedensverhandlungen“ mit der Ukraine in Erscheinung und unterstrich als machtpolitisch bedeutungslose Figur somit deren lediglich simulierten Charakter.

Ebenfalls in diese Lesart passen die riesigen Multimedia-Parks „Russland – meine Geschichte“: Sie präsentieren in dutzenden Städten ein von der Russisch-Orthodoxen Kirche inspiriertes Geschichtsbild, dem zufolge gute Zaren das Territorium des Landes stets mehrten und es gegen zahlreiche äußere und innere Feinde verteidigten – und in dem Wladimir Putin als nationaler Erlöser nach einem Interregnum der Schmach und inneren Zerrissenheit auftritt.

Unerwartet geringer Bezug zum Großen Vaterländischen Krieg

Vor allem aber ist es die zentrale Rolle der Erinnerung und des Gedenkens an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – also im deutsch-sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945 –, die im Rückblick als Vorstufe und Legitimierung neuerlicher Aggression erscheint. Der 9. Mai als Tag des Sieges ist mittlerweile Russlands wichtigster politischer Feiertag. Besonders in der Außenwahrnehmung, aber auch für Liberale in Russland, definiert sich dieser Tag durch seine aggressiv-militaristischen Aspekte. Dazu gehören an erster Stelle die Militärparade samt Panzern, Lenkraketen und sonstigem Militärgerät auf dem Roten Platz in Moskau und die inflationäre Verwendung patriotischer Symbolik wie des schwarz-orangen Georgsbändchens.[1] Auch die Märsche des „Unsterblichen Regiments“ werden oft dazugezählt: Ursprünglich dienten die öffentlichen Prozessionen, auf denen Angehörige Porträts von Kriegsteilnehmern aus ihrer Familie trugen, der Demokratisierung des Kriegsgedenkens. Inzwischen gelten sie vielen als komplett vom Kreml gekapert. Vor allem Nationalisten, die mit Schriftzügen wie „Berlin 1945 – wir können es wiederholen“ an Gedenkfeiern teilnehmen, lassen diesen Tag als Hochfest eines blutrünstigen Revanchismus erscheinen.

Doch diese durchaus verständliche Sichtweise wird der Dynamik des postsowjetischen Kriegsgedenkens nicht gerecht. Denn auch wenn Russlands Geschichtspolitik unter Putin einen allgemeinen Hintergrund für die neuerliche imperiale Aggression bildet, lässt sie sich bei genauerer Betrachtung nicht teleologisch als Vorbereitung des 24. Februar 2022 interpretieren.

Zwar werteten viele westliche Betrachter Russlands bizarre Rhetorik, nach der der Großangriff auf die Ukraine eine Operation zur „Entnazifizierung“ des Nachbarlandes sei, als offensichtlichen Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Aber allen, die sich eingehender mit Kriegsgedenken und -erinnerung im postsowjetischen Raum befassen, sticht vielmehr ins Auge, welch unerwartet geringe Rolle die Verweise auf den Großen Vaterländischen Krieg spielen: So sind es nicht die reichhaltig vorhandenen Symbole des Kriegsgedenkens, die zum Emblem von Russlands Aggression wurden, sondern die bis dato nichtssagenden lateinischen Buchstaben Z und V. Auch das Motto „Wir geben unsere Leute nicht auf“ weckt eher Assoziationen an Hollywoodfilme wie „Saving Private Ryan“ oder filmische Gewaltorgien aus der postsowjetischen Zeit wie „Brat-2“ als an die allzu vertraute Kultur des Weltkriegsgedenkens. Besonders markant aber ist der aktuell nur geringe Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg im Kontrast zur vorangegangenen Phase des seit 2014 andauernden Krieges im Donbas.

Selbstverständlich schwingen Anklänge an den Großen Vaterländischen Krieg dennoch immer wieder mit. Wie könnte es auch anders sein? In den vergangenen Jahren ist dieser Krieg in Russland zu einem so zentralen Thema geworden, dass er inzwischen fast alles rahmt: nicht nur Vorstellungen über Russlands nationale Größe und welthistorische Rolle, sondern auch Familiengeschichten und Alltagskonflikte.

Dennoch orientiert sich die neuerliche kriegerische Eskalation nicht in erster Linie am gängigen Narrativ über die Jahre 1941 bis 1945, sondern eher an der Niederschlagung der antikommunistischen Aufstände im sowjetisch besetzten Ostmitteleuropa und in erster Linie an der Unterdrückung des Prager Frühlings im Jahr 1968. Anders wäre auch die Rede von einer „Spezialoperation“ unter krampfhafter Vermeidung des Wortes „Krieg“ nicht zu erklären.

»Faschismus«: Ein Kürzel für echte oder vermeintliche Feindschaft

Grundlegend für ein Verständnis dieses Kontrasts sind Unterscheidungen, die für die sowjetische und postsowjetische Geschichtspolitik von großer Bedeutung sind, auch wenn sie aus der Außenperspektive unerheblich erscheinen mögen. Zentral dafür ist zunächst die rhetorische Ebene, nämlich der Unterschied zwischen „Faschismus“ und „Nazismus“: Bereits in den 1930er Jahren war in der UdSSR kaum je die Rede vom „Nationalsozialismus“ oder von „Nazis“, sondern fast ausschließlich von „Faschisten“ – schon um ihnen den Anspruch auf einen wie auch immer gearteten „Sozialismus“ streitig zu machen. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Jahr 1941 sprach man von „deutsch-faschistischen Eroberern“. Auch nach 1945 blieb „Faschismus“ einer der zentralen Begriffe des politischen Wortschatzes. Dabei ging es in der Praxis nur selten um ideologische Inhalte. Als wichtigstes Merkmal des Faschismus galt nicht etwa sein totalitärer Charakter: Binnenanalysen des NS-Systems, ob aus deutscher Innenansicht oder aus der Feder sowjetischer Intellektueller, besaßen angesichts der offensichtlichen Parallelen zum Stalinismus zu hohe Sprengkraft. Auch das genozidale Wesen des Nationalsozialismus kam nur spärlich zur Sprache, allein schon um die Juden nicht gegenüber anderen Opfergruppen hervorzuheben – aber auch deshalb, weil vor allem Helden und Märtyrer im Zentrum der Erzählung stehen mussten und keine Opfer. Bis heute sind Begriffe wie „Holocaust“ und „Shoah“ in Russland und weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion kaum bekannt. Der Völkermord an den Juden, geschweige denn jener an den Roma, steht keineswegs im Zentrum, wenn von Faschismus und dem Großen Vaterländischen Krieg die Rede ist. Das Wesen der Faschisten war und ist, dass sie die Sowjetunion überfallen hatten – das machte sie zum Inbegriff des Bösen. Zwar existierte mit der berühmten Dimitroff-Formel eine offizielle marxistisch-leninistische Definition des Faschismus,[2] tatsächlich fungierte das Wort jedoch in erster Linie als Kampfbegriff. „Faschismus“ war dabei keineswegs ein sinnentleertes Schimpfwort, sondern diente dazu, den im jeweiligen Kontext schlimmsten Feind der Sowjetunion zu brandmarken: Als faschistisch konnten – je nach geopolitischer Lage – etwa der jugoslawische Ministerpräsident Tito, die US-amerikanische oder auch die israelische Regierung bezeichnet werden. Gerne wurde auch Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft in Ostmitteleuropa nicht nur als „reaktionär“, sondern als „faschistisch“ dargestellt.

Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb der Begriff des „Faschismus“ im rhetorischen Fokus verschiedenster politischer Kräfte. Seit der Perestroika hatten sich verschiedene „antifaschistische“ Vereinigungen linker oder liberaler Couleur gebildet, um vor einer Bedrohung durch die aufblühende rechtsradikale Szene zu warnen. Doch spätestens seit Mitte der 2000er Jahre vereinnahmte der Kreml den Begriff des Antifaschismus wieder für sich, indem er politische Widersacher vor allem aus dem liberalen Lager zu „Faschisten“ und daher zu Feinden erklärte und deren Bekämpfung mit Patriotismus und Kriegserinnerung verband. Die kurzlebige und politisch oft überbewertete, aber sehr publikumswirksame Jugendorganisation „Naschi“ („Die Unsrigen“) trug das Attribut „antifaschistisch“ in ihrem Namen.

»Nazismus« bedroht Russlands hegemonialen Anspruch

„Nazis“ oder „Neonazis“ hingegen hatten im sowjetischen Diskurs, sofern sie überhaupt zur Sprache kamen, eher als gesellschaftliche Begleiterscheinungen gegolten – und daher als Marionetten anderer, stärkerer Kräfte. In der postsowjetischen Zeit verwischte sich die Unterscheidung zwar, doch erst 2010 rückte der Begriff des „Nazismus“ ein wenig ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In diesem Jahr hob der Kreml mit „Welt ohne Nazismus“ eine Organisation aus der Taufe, die sich vor allem darauf verlegte, russlandkritische Regierungen anderer ehemals sozialistischer Staaten als „Nazis“ zu attackieren und somit Russlands Anspruch als Schutzmacht russischsprachiger Bevölkerungsgruppen und Hegemonialmacht einer „russischen Welt“ zu unterfüttern. Russland ging es darum, die „einzig richtige“ Lesart des Zweiten Weltkriegs gegen neue nationale Geschichtsnarrative zu verteidigen, in denen antisowjetische Widerstandskämpfer (darunter vermeintliche, aber auch durchaus reale NS-Kollaborateure und Kriegsverbrecher) zu Helden oder Märtyrern stilisiert wurden – ohne dabei eine Aufarbeitung der Verbrechen zuzulassen, die die Sowjetunion während des Kriegs und später als Besatzungsmacht begangen hatte. Die Rede vom „Nazismus“ diente hier dazu, dieses Anliegen an den internationalen Holocaust-Diskurs anschlussfähig zu machen. Gleichzeitig klang durch die Verwendung des Begriffs an, dass die angeblichen „Nazis“ in Ländern wie Estland oder der Ukraine letztendlich nicht eigenständig agierten, sondern im Interesse westlicher Mächte, um Russland zu schwächen. Erst im Zuge solcher Bemühungen fand auch der Begriff der „Entnazifizierung“ Eingang in staatsnahe Geschichtsdiskurse. In der Sowjetunion war dieser kaum vorgekommen. Auch in der postsowjetischen Zeit verwendeten ihn bis vor kurzem vor allem liberale Intellektuelle, die – mit wenig Sachkenntnis – die angeblich vorbildhafte Entnazifizierung in Adenauers Bundesrepublik der versäumten Lustration ehemaliger sowjetischer Parteikader nach 1991 gegenüberstellten.[3] Nach ihrer Auffassung konnte ein formal demokratisches System am Fortbestand einer kompromittierten politischen Elite scheitern. Der Weg zu einer „Gesundung“ der Gesellschaft lag also in einer Säuberung der Führungsriege. Die richtigen Eliten hingegen würden das Land auch in die korrekte Richtung führen. Diese Vorstellung ist sicherlich diskussionswürdig, wenn auch nicht unproblematisch. Allerdings konnten kremlnahe Publizisten die auf nicht genehme Eliten bezogene „Entnazifizierung“ auch auf ihre Weise deuten und so die sowjetische Rhetorik über die Volksaufstände der Jahre 1953, 1956 oder 1968 in Ostmitteleuropa in neuem Gewand präsentieren.

Eine Schlüsselrolle kommt hier dem Politikberater Timofej Sergejzew zu, der im April 2022 traurige Berühmtheit erlangen sollte, als er unverhohlen zum Völkermord in der Ukraine aufrief.[4] Wie viele der sogenannten Polittechnologen im postsowjetischen Raum entstammt er einer sektenähnlichen Gruppe sogenannter Methodologen, die seit den 1970er Jahren die Gesellschaft als letztlich steuerbares System konzeptualisierten. Deren Gründer Georgij Schtschedrowizkij hatte seinerzeit bei Aleksandr Sinowjew studiert, einem scharfsinnigen Philosophen und Soziologen, der sich jedoch in der postsowjetischen Zeit in zunehmend abstrusere Theorien über eine westliche Verschwörung gegen Russland verstieg. Schtschedrowizkijs Sohn Pjotr prägte bereits kurz nach Putins Machtantritt den Begriff der „russischen Welt“. Sergejzew wiederum war auch in der Ukraine als Politikberater für Figuren verschiedenster Couleur tätig gewesen, bevor er im Jahr 2014 gemeinsam mit dem berüchtigten Fernsehpropagandisten Dmitrij Kisseljow und anderen einen „Sinowjew-Klub“ gründete und sich zunehmend auf antiwestliche und antiukrainische Propaganda spezialisierte. Bereits im April 2021 veröffentlichte Sergejzew einen Artikel auf der Webseite der staatlichen Nachrichtenagentur „RIA-Nowosti“, in dem er zu einer „Entnazifizierung“ der Ukraine aufrief. Dabei stützt er sich auf die These einer angeblich versäumten Entnazifizierung in Ostmitteleuropa während des Kalten Kriegs. Die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Polen seien zuvor „deutsche Satelliten“ gewesen, die Sowjetunion habe ihnen aber einen Opferstatus zuerkannt. Dieses Versäumnis habe zu den „ihrem Wesen nach faschistischen Revolten in Ungarn und der Tschechoslowakei in den Jahren 1956 und 1968“ geführt. Die Neutralität Österreichs und Finnlands hätte sich demgegenüber „letztlich als weitsichtiger erwiesen“.[5] Um diesen Fehler nicht zu wiederholen, müsse jetzt auch die Ukraine entnazifiziert werden.

Eigenständigkeit ist nur als Selbstverblendung denkbar

Ob Putin diesen Text gelesen und sich bei seinen Tiraden über die „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine davon hat inspirieren lassen, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass solche Konstrukte die Logik von Russlands Führung artikulieren. Nach deren Auffassung gehört die Ukraine zu Moskaus natürlichem Herrschaftsgebiet. Wer sich dort als unabhängiger Akteur geriert, ist ein „Faschist“ – da eine ukrainische Subjekthaftigkeit nur als Auflehnung gegen Russland interpretiert werden kann –, vor allem aber ein „Nazi“, da jede Eigenständigkeit letztlich nur die tatsächliche Abhängigkeit von äußeren Mächten und konkret den USA kaschiere: Denn eine reale Eigenständigkeit der Menschen in Ländern zwischen den großen Imperien ist in diesem Denkschema allenfalls als Selbstverblendung vorstellbar. Die Radikalisierung dieser Logik hin zum unverblümten Völkermord ist leider folgerichtig. Wenn der Prager Frühling als Oktroyierung bürgerlicher Ideen durch eine unvollständig entnazifizierte Machtclique gesehen werden kann, lässt sich auch die gesamte ukrainische Sprache und Kultur als ein durch ferngesteuerte „Nazis“ verordnetes antirussisches Projekt darstellen. Daher auch die Rede von einer „Spezialoperation“: So wie die militärische Intervention in der CˇSSR eine „Gefährdung der sozialistischen Ordnung in der Tschechoslowakei“ abwenden sollte, geht es im Jahr 2022 darum, die Gefährdung der „russischen Welt“ abzuwenden, indem die Ukraine von allem Ukrainischen befreit wird. Dabei diente Putin offensichtlich nicht die Generalmobilmachung des Jahres 1941 als Vorbild, sondern vielmehr die „eingeschränkte“ Operation des Jahres 1968, in der mehr als doppelt so viele Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschierten als im Februar 2022 aus Russland und Belarus in die viel größere Ukraine.

Dass die Ukraine von einem jüdischen Präsidenten regiert wird, dessen Familie im Holocaust dezimiert wurde; dass rechtsradikale Parteien in der Ukraine weitaus weniger Zuspruch finden als in Deutschland oder Frankreich – all dies mag aus westlicher Perspektive den Nazi-Vorwurf geradezu skurril erscheinen lassen. Für die russländische Propaganda allerdings ist all dies unerheblich, da aus ihrer Sicht weder Antisemitismus noch ultrarechtes Gedankengut das Wesen des „Faschismus“ oder des „Nazismus“ ausmachen; denn beides definiert sich ja nicht absolut, also über bestimmte politische Inhalte, sondern relativ, also über das Verhältnis zu Russland oder aber zu Territorien oder Bevölkerungsgruppen, auf die Russland Anspruch erhebt. „Faschismus“ steht dabei als Kürzel für echte oder vermeintliche Feindschaft, „Nazismus“ für die Weigerung, sich unterzuordnen.

Selbstverständlich sind jegliche Spuren einer tatsächlichen nationalistischen Gesinnung dabei willkommenes Futter für solche Konstruktionen. Dabei geht es jedoch nicht um die inhaltliche, sondern um die symbolische Dimension. Jeder positive oder auch nur neutrale Verweis etwa auf den historischen Nationalistenführer Stepan Bandera gilt als Merkmal eines „Faschismus“ – ganz gleich, ob damit tatsächlich nationalistische politische Maßnahmen durchgesetzt werden sollen oder nicht.

Noch stärker als in dem auch innerhalb der Ukraine zu Recht kontrovers diskutierten Fall Bandera kommt dies etwa in Belarus zum Ausdruck. Dort wurde die weiß-rot-weiße Fahne der belarusischen Nationalbewegung im Jahr 2020 zum universellen Symbol des Protests gegen die Diktatur, zum Zeichen für Demokratie, gewaltfreien Widerstand, Meinungsfreiheit, faire Wahlen und eine herkunftsunabhängige Staatsbürgernation. Machthaber Lukaschenka ließ daraufhin Geschichtslehrbücher dahingehend umschreiben, die Fahne sei als ein faschistisches Symbol von Kollaborateuren der deutschen Besatzungsmacht zu werten. Nicht nur, dass dies historisch abstrus ist: Es war auch offensichtlich, dass die Flagge im Jahr 2020 ebenso wenig faschistische Inhalte transportierte wie etwa die dritte Strophe des Deutschlandlieds als Nationalhymne der Bundesrepublik.

Kriegsgedenken als Angriffsgrund – ein zweischneidiges Schwert

Natürlich wird die Trennung zwischen „Faschisten“ und „Nazis“, zwischen „antifaschistischem Kampf“ und „Entnazifizierung“ nicht in jedem Propagandatext sauber eingehalten. Es handelt sich eher um Tendenzen als um Eckpfeiler eines in sich schlüssigen Denkgebäudes. Und selbstverständlich werden auch immer wieder Anklänge an den Großen Vaterländischen Krieg bemüht, etwa wenn Schulkinder vor bekannten Kriegsdenkmälern in Z-Formation gefilmt werden. Dennoch bleiben diese Verweise unerwartet schwach. Besonders im Kontrast zu Russlands Besetzung der Krim und der militärischen Intervention in der Südostukraine im Jahr 2014 wird dies sichtbar. Die Invasion in die mit zahlreichen Kriegsmythen behafteten, überwiegend russischsprachigen Regionen Donbas und Krim konnte innerhalb Russlands als Befreiung von einem faschistischen Joch präsentiert werden und löste eine Welle patriotischer Begeisterung aus. Im Fall von Donezk und Luhansk stritt Moskau ab, reguläre Truppen entsandt zu haben, und räumte lediglich ein, dass Freiwillige vor Ort seien. Tatsächlich zogen zahlreiche Abenteurer in den Kampf, für die das Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg identitätsstiftend war: etwa Mitglieder der Reenactment-Szene oder Fans militärischer Computerspiele.[6] Kämpfe an berühmten Schlachtorten des Zweiten Weltkriegs wurden von vielen Menschen in Russland als eine Neuauflage des Kampfs gegen die Faschisten wahrgenommen. Ehrenmale des Großen Vaterländischen Kriegs waren aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung besonders hart umkämpft.

Doch bereits in dieser ersten Phase des Krieges erwies sich das Weltkriegsgedenken als zweischneidiges Schwert: Immerhin hatte die sowjetische Ukraine einen mindestens ebenso großen Anteil am Entstehen des sowjetischen Kriegskults wie Russland – ja eigentlich einen größeren, denn schließlich war sie, anders als Russland, komplett von der Wehrmacht und deren Verbündeten besetzt gewesen und war von Kriegsgräbern und Spuren der Verwüstung übersät.[7] Deshalb konnte auch die ukrainische Seite ihren Einsatz im Donbas-Krieg als Fortführung eines Befreiungskampfs gegen faschistische Eroberer darstellen – und tat dies etwa mit Videoclips, in denen ukrainische Veteranen der Roten Armee die Staffel an ihre Enkel übergaben.[8]

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Der Großangriff im Februar 2022 machte es hingegen Putins Regime schwer, die Kultur des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg für sich zu nutzen. Zum einen sind immer größere Teile dieses Gedenkens in Russland im Zuge des mehrjährigen Krieges mit dem Nachbarland zu einer orchestrierten Pflichtveranstaltung geworden, was – wie schon in der Endphase der Sowjetunion – den genuinen Enthusiasmus erheblich dämpft. Zum anderen macht es die Logik einer professionellen „Spezialoperation“ schwer, an die mit 1941 bis 1945 assoziierte Mobilisierungsrhetorik anzuknüpfen. Vor allem aber ist Russlands Führung in eine selbst gestellte Falle getappt, da ihre Armee im blutigen Theaterstück des Weltkriegs-Reenactments offensichtlich die Rolle der deutschen Invasoren spielt. Die Bombenattacke auf Kyjiw am Morgen des ersten Kriegstags etwa erinnert russischsprachige Menschen fast zwangsläufig an eines der berühmtesten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, das genau einen solchen Angriff am 22. Juni 1941 mit dem Kriegsbeginn gleichsetzt. Diese Parallelen wurden in der Ukraine selbstverständlich sofort aufgegriffen und Symbole des sowjetischen Kriegsgedenkens wiederum für den Widerstand gegen Russland mobilisiert. So ist die riesige Mutter-Heimat-Statue über dem Weltkriegsmuseum in der ukrainischen Hauptstadt inzwischen zu einem wichtigen Sinnbild avanciert, nicht zuletzt in online zirkulierenden pro-ukrainischen Memes.

Wenn Putin also am 9. Mai wieder eine Parade zum Siegestag abnimmt, wird dies womöglich weniger von der Stärke des Kriegsgedenkens zeugen als von Russlands schwindender Kontrolle über die Gedenkkultur. Schon in den vergangenen Jahren konnte sich die staatstragende Version dieses Gedenkens nur deshalb in Russland und unter russischsprachigen Menschen in anderen Ländern durchsetzen, weil sie ein genuines Bedürfnis der Enkelgeneration nach Sinngebung für die eigene Familiengeschichte bediente. Von Estland über Deutschland bis Israel taten die Mehrheitsgesellschaften das sowjetisch geprägte Weltkriegsgedenken dieser Gruppen als Skurrilität ab, was Russland de facto ein Monopol über die entsprechende Symbolsprache bescherte.

Nach der Zeitenwende von 2022 ist es gut möglich, dass sich zahlreiche Menschen mit sowjetischen Wurzeln – darunter viele in Russland – angewidert davon abwenden werden. Zumindest aber wird es unweigerlich Versuche einer Entsowjetisierung und Entputinisierung des Kriegsgedenkens geben – wie schon seit 2014 in der Ukraine. Seitdem bezieht sich die dortige Gedenkkultur stärker auf westeuropäische Vorbilder: Seit dem Jubiläumsjahr 2015 gibt zusätzlich zum Feiertag am 9. Mai den „Tag der Erinnerung und Versöhnung“ am 8. Mai, an dem die Opfer des gesamten Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 im Mittelpunkt stehen sollen, also auch diejenigen des Hitler-Stalin-Pakts. Der Entrussifizierung der Erinnerung dient auch die auf einem britischen Vorbild basierende Mohnblüte als neues Gedenksymbol. So kann die Ukraine heute Russland sowohl den Anspruch auf das Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg streitig machen als auch die ganze entsprechende Kultur in Frage stellen. Die Zukunft des Weltkriegsgedenkens bleibt offen, aber es wird Russland kaum dabei helfen, nachhaltige und umfassende Unterstützung für seinen Angriffskrieg zu sichern.

[1] Vgl. zu den Militärparaden: Mischa Gabowitsch, Gedenktage und Militärparaden in Russland zum 75. Jubiläum des Kriegsendes: der 9. Mai und der 3. September von 1945 bis 2020, in: „Erinnerungskulturen“, 6.5.2020, https://erinnerung.hypotheses.org/8243. Das Georgsbändchen, das an eine militärische Auszeichnung angelehnte Gedenkzeichen, sollte seit 2005 Unterstützung für Weltkriegsveteranen bezeugen. Zunehmend wurde es aber zum allgemeinen Symbol für Patriotismus und die Unterstützung der offiziellen Politik.

[2] „Faschismus an der Macht ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“

[3] Vgl. dazu Mischa Gabowitsch, Foils and Mirrors: The Soviet Intelligentsia and German Atonement, in: ders. (Hg.) Replicating Atonement: Foreign Models in the Commemoration of Atrocities, London 2017, S. 267-302.

[4] Timofej Sergejcev, Cˇto Rossija dolžna sdelat’ s Ukrainoj, www.ria.ru, 3.4.2022.

[5] Ders., Kakaja Ukraina nam ne nužna, www.ria.ru, 10.4.2021.

[6] Vgl. Nikolay Mitrokhin, Russische Nationalisten im Ukraine-Einsatz, in: „Osteuropa“, 3-4/2019, S. 103-121.

[7] Vgl. Mischa Gabowitsch, Victory Day before the Cult: War Commemoration in the USSR, 1945-65, in: David L. Hoffmann (Hg.), The Memory of the Second World War in Soviet and Post-Soviet Russia. Abingdon 2021, S. 64-85.

[8] Vgl. Jochen Hellbeck, Tetiana Pastushenko und Dmytro Tytarenko, „Wir werden siegen, wie schon vor 70 Jahren unsere Großväter gesiegt haben.“ Weltkriegsgedenken in der Ukraine im Schatten des neuerlichen Kriegs, in: Mischa Gabowitsch, Cordula Gdaniec und Ekaterina Makhotina (Hg.), Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa. Paderborn 2017, S. 41-66.

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