Die russische Armee war und bleibt eine Schule der Sklaven

In Russland hat jede Generation ihren Krieg. Die Soldaten aber gleichen sich in allen Zeiten. Der Kadavergehorsam wird ihnen von ihresgleichen eingeprügelt.

Michail Schischkin
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Aus der Reihe zu fallen, ist hier nicht vorgesehen. Russische Soldaten üben 2010 für die jährliche Maiparade in Moskau zum Gedenken an den Sieg über Deutschland.

Aus der Reihe zu fallen, ist hier nicht vorgesehen. Russische Soldaten üben 2010 für die jährliche Maiparade in Moskau zum Gedenken an den Sieg über Deutschland.

Alexander Natruskin / Reuters

Der Kriegsplan des russischen Generalstabs sah voraus, dass sich die Nato mit ihren Streitkräften nicht in die sogenannte Befreiung der Ukraine einmischen werde. Warum auch sollte die Welt wegen irgendeines Mariupols im nuklearen Inferno enden? Diese Rechnung ging auf. Es würde auch keine Flugverbotszone geben am ukrainischen Himmel.

Die US-Geheimdienste wiederum wussten genau, wie viele Panzer, Kampfflugzeuge und Raketen Russland besitzt. Sie gingen davon aus, dass die Ukraine nach einigen Tagen militärisch besiegt sein würde. In dieser Hinsicht haben sich die Amerikaner verrechnet. Den Krieg entscheiden keine Panzer, sondern Soldaten.

Die russische Armee hat versagt. Die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen. Wissen es die russischen Soldaten?

Russland verliert den Krieg in der Ukraine. Russische Soldaten verlassen ihre Panzer aus Angst und fliehen. Die Offensive steckt fest, die Soldaten sind demotiviert, es fehlt an Treibstoff, an Nahrung. Ein krasses Beispiel für den desolaten Zustand der russischen Armee ist die Verpflegung. Die ganze Welt staunte, als man Bilder zu sehen bekam von 2015 abgelaufenen Feldrationen, die getötete und gefangengenommene Soldaten auf sich trugen. Putins Armee muss marodieren, um nicht zu verhungern. All das besagt, dass die neue Armee Russlands die alte Sowjetarmee geblieben ist, die Armee der Hungrigen.

Mit knurrendem Magen im Feld

Ich habe die militärische Ausbildung als Militärübersetzer an der pädagogischen Hochschule in Moskau abgeschlossen. Ich bin Offizier der Sowjetarmee, Leutnant der Reserve. Ich werde nie vergessen, wie ich im Militärlager in Kowrow bei der Vereidigung las: «Ich schwöre, bis zum letzten Blutstropfen mein sozialistisches Vaterland zu verteidigen.» Daraufhin küsste ich die Fahne, sie roch nach geräuchertem Fisch. Unsere Kommandanten hatten Bier getrunken, Fisch dazu gegessen und danach die Hände an der Fahne abgerieben.

Das Essen im Militär war miserabel, unaufhörlich Grütze und ein undefinierbares Gesöff, so dass wir stets mit knurrendem Magen herumliefen und sonntags Überfälle auf das nächstgelegene Dorf verübten. Dort stahlen wir Gemüse aus den Gärten, schüttelten Äpfel von den Bäumen und bekamen fast alle Durchfall davon.

Beliebt war der Küchendienst, ja er wurde geradezu als Fest empfunden, da man sich dabei nach Lust und Laune satt essen konnte. Wenn wir in der Küche die Büchsen mit dem Schmorfleisch öffneten, assen wir jeweils heimlich die Hälfte erst einmal selbst auf. Die andere Hälfte wanderte auf den Offizierstisch. Für die gemeinen Soldaten blieb nur noch Grütze ohne Fleisch übrig. Niemand stiess sich daran, niemand hielt es für niederträchtig, dem anderen das Essen aus dem Napf wegzustehlen, schliesslich tat es jeder, wenn er beim Küchendienst an der Reihe war.

Jede Armee spiegelt die Quintessenz der Gesellschaftsordnung wider. Die russische Armee spielt eine wichtige soziale Rolle im Land, sie ist eine Anlaufstelle für die Éducation sentimentale. Und die russische Armee war und bleibt eine Schule der Sklaven.

Der tiefere Sinn des Militärdienstes liegt in den «nicht auf Vorschriften beruhenden Verhaltensregeln», diesen unverbrüchlichen, ungeschriebenen Armeegesetzen, Dedowschtschina genannt. Die Stellung eines Soldaten in der sozialen Hierarchie hängt von der Zeit ab, die er abgedient hat. Die älteren Soldaten haben praktisch unbeschränkte Macht über die neuen Rekruten und nutzen sie aus, indem sie die Rekruten täglich zwingen, schwere Arbeiten auszuführen.

Auch in Friedenszeiten sterben täglich Soldaten

Willst du als Rekrut überleben, musst du zuerst zum Sklaven werden, deine Menschenwürde fahren lassen. Später wirst du von einem Sklaven zu einem Herrn, nun bist du an der Reihe, die Neuen zu prügeln, ihnen in die Stiefel zu pissen, sie eine mit Schuhwichse beschmierte Brotscheibe essen zu lassen, ihnen die von zu Hause zugeschickten Lebensmittel wegzunehmen. Die meisten russischen Männer absolvieren diese Sklavenausbildung und tragen die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in jede Familie. Die Brutalität in Alltagskonflikten in meinem Land ist erschreckend. Toleranz ist so gut wie unbekannt.

In ihrem Bericht über die «Situation der russischen Streitkräfte» veröffentlichte die Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 folgende Zahlen: Jährlich wurden etwa 130 000 Straftaten begangen. Gegen 15 700 Soldaten und Offiziere wurde ein Strafverfahren eingeleitet, 15 000 von ihnen wurden verurteilt. Wegen des Diebstahls von Waffen, Technik, Ausrüstung und finanziellen Mitteln erhielten mehr als tausend Soldaten und Offiziere Freiheitsstrafen. 40 Prozent aller Straftaten waren auf physische Gewalt zurückzuführen. Monatlich starben (in der Friedenszeit!) durchschnittlich 88 Soldaten und Offiziere, das macht jährlich 1064 Soldaten, 276 von ihnen durch Selbstmord und 16 durch physische Misshandlungen der Vorgesetzten und anderer Soldaten.

Das waren die Zahlen aus offenen Quellen. Später begann die Putinsche Armeereform. In den letzten Jahren wurden solche Daten, gemäss der oppositionellen «Nowaja Gaseta», geheim gehalten. Der Verteidigungsminister schwor mehrmals, dass die Dedowschtschina in der Armee ausgerottet sei. Dass es nicht so ist, bezeugen regelmässige Medienberichte über Soldaten, die ihre sogenannten Waffenbrüder erschiessen und flüchten.

Um fair zu sein, muss man auch sagen, dass die Armee in Russland auch eine zivilisatorische Rolle spielt. Am 15. Februar 2006 erklärte der damalige Verteidigungsminister Sergei Iwanow in der Duma: «Viele Einberufene sehen zum ersten Mal im Leben eine Klosettschüssel, eine Zahnbürste und drei Mahlzeiten täglich. Deshalb fällt es nicht leicht, solche Soldaten zu erziehen.»

Ein Panzer bleibt auf dem Roten Platz liegen

Wer hat gesagt, dass jede Generation ihren Krieg braucht? In Russland stimmt das. Zwei Freunde von mir fielen in Afghanistan. Die nächste Generation musste an den Kriegen in Tschetschenien teilnehmen. Unzählige Berichte von Veteranen stellen das gleiche Bild der russischen Armee dar: Hunger und Korruption. Es war gang und gäbe, dass Kommandanten an tschetschenische Rebellen Waffen und Informationen verkauften, mit anderen Worten: das Leben ihrer eigenen Soldaten. Der bekannte Journalist Arkadi Babtschenko, der selber in Tschetschenien gekämpft hatte, formulierte den berühmt gewordenen Grundsatz der Soldatenmoral in der russischen Armee: «Deine Heimat wird dich immer im Stich lassen, mein Sohn, immer.»

Nun hat die nächste Generation ihren Krieg. Das Image der reformierten, modernen, kampfbereiten Armee erwies sich als Selbsttäuschung der Putinschen Propaganda. Wenn das ganze kriminelle Regime auf der Korruption und der Unterschlagung der staatlichen Gelder basiert, dann betraf das in erster Linie die immensen Ausgaben für die Reformen und die Umrüstung der Armee.

Die undurchsichtigen Praktiken der Geldvergabe brachten sämtliche Reformversuche zum Scheitern. Auch die horrenden Militärausgaben konnten den kritischen Zustand nicht ändern. Berühmt wurde die Blamage der Rüstungsindustrie, als im Mai 2015 ein Panzer der neuen Generation Armata T-14 während der Militärparade auf dem Roten Platz liegenblieb und abgeschleppt werden musste. Die Produktion dieser Neuentwicklung geriet ins Stocken. Viele Ausrüstungen sind überdies veraltet und stammen noch aus der Sowjetzeit.

Was die Kriegsführung in der Ukraine betrifft, so gilt für die russische Armee die gleiche bewährte Taktik wie in allen früheren Kriegen: unermüdlich Soldatenmassen zu verfeuern. Russland hat einen Vorteil, der der gesamten zivilisierten Welt vorenthalten bleibt: Putin kümmert sich nicht darum, wie viele Tausende oder Zehntausende Soldaten er in der Ukraine opfert. Der berühmte «Siegesmarschall» Georgi Schukow formulierte es am deutlichsten: «Macht nichts. Russische Weiber werden noch mehr Soldaten gebären.»

Putin lehnte das Angebot des IKRK ab, die Leichen russischer Soldaten aus der Ukraine nach Russland überzuführen. Das ist alles, was man über die Beziehungen zwischen der Macht und dem Fussvolk in meinem Land wissen muss.

Gerade überlegte ich mir, wie ich diesen Text über die russische Armee und ihre Soldaten abschliessen sollte, da kam mein Sohn und fragte: «Papa, warum war ein griechischer Fusssoldat auf dem Schlachtfeld stärker als ein Dutzend Söldner des persischen Königs?» Ich antwortete: «Er war ein freier Bürger und verteidigte seine Freiheit, und diese waren Sklaven.»

Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, gehört zu den bedeutendsten russischen Gegenwartsautoren. Er lebt seit 1995 in der Schweiz.