Gastkommentar

Russlands tiefe Leere – Wladimir Putin hat einen Autoritarismus erschaffen, der mit zynischem Nihilismus und nicht mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft wuchert

Zweiundzwanzig Jahre ist Putin mittlerweile an der Macht. Er hat in dieser Zeit kein einziges politisches Programm und keine einzige politische Idee vorgelegt, sondern nur ideologischen Nebel erzeugt, der vor sich hin wabert. Und nun zum grossen Krieg geführt hat.

Anna Schor-Tschudnowskaja 122 Kommentare
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«Je grösser die Zahl derjenigen ist, die der Lügner überzeugt hat», schrieb Hannah Arendt im Jahr 1964, «desto geringer ist die Chance, dass er selbst noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Daraus folgt, dass die Lüge in der Öffentlichkeit (. . .) ungleich gefährlicher ist als das private Schwindeln.»

Tatsächlich ist der Krieg in der Ukraine nur möglich geworden, weil die russische Staatsführung seit Jahren konsequent lügt und weil sich Menschen in Russland belügen lassen. Sie haben darum keine innere Abwehr gegen die Lüge, weil das pathetische und zugleich so verführerisch einfach zusammengelogene Weltbild Putins für sie bequemer ist als die mit irritierenden Widersprüchen behaftete Realität.

Das Wesen des «Zigismus»

Allem voran wird dieses Weltbild von der nie aufgearbeiteten sowjetischen Vergangenheit und insbesondere der Verherrlichung von Stalin und seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg gestützt. Nicht nur gerät dadurch der totalitäre Charakter der Sowjetführung aus dem Blick, es entsteht der euphorische Mythos, dass es darum gehe, den Sieg über Nazideutschland auf ewig fortzusetzen. Die dreiste Lüge von der notwendigen «Denazifizierung der Ukraine» wäre ohne diese verlogene Geschichtspolitik und die gefährliche Manipulation mit dem «Siegesbewusstsein» nicht möglich gewesen.

Die im Exil lebende russische Journalistin Julia Latynina hat das gegenwärtige Regime kürzlich als «Zigismus» bezeichnet. Damit spielt sie auf den mysteriösen Buchstaben Z an, der zunächst auf der in der Ukraine eingesetzten russischen Militärtechnik auftauchte und dann zu einem wichtigen Propagandasymbol in Russland selbst wurde.

Was Russlands Menschen als Trost bleibt, ist der Stolz auf die eigene verklärte Geschichte, die es so nie gegeben hat.

Bemerkenswert ist, dass niemand genau weiss, was Z bedeutet. Kindergärten und Schulen setzten es ein, um ihre Unterstützung zu bekunden. Organisationen und Firmen bekamen offizielle, doch verschwommene und widersprüchliche Verordnungen zugeschickt, wie mit dem Zeichen umzugehen sei. Manche meinen darin den Wunsch nach einem Sieg zu erkennen. Z stände dann für den Slogan «Für den Sieg!» («Za pobedu!»). Das aber ist zum einen seltsam, weil aus einem unerfindlichen Grund der kyrillische Buchstabe durch einen lateinischen ersetzt wird. Und zum anderen klingt es absurd, wenn dieses falsch geschriebene «Zieg Heil!» einen «Zieg» meint, von dem niemand eine Ahnung hat, worin er genau bestehen soll.

«Alles läuft nach Plan», lässt sich immer wieder vom Pressesprecher des Kreml, Dmitri Peskow, vernehmen. Was aber ist der Plan der sogenannten Spezialoperation? Sowohl die Okkupation des ukrainischen Territoriums als auch der Regimewechsel in Kiew werden vom Kreml als Kriegsziele bestritten. Ja nicht einmal um einen Krieg darf es sich handeln. Und doch herrscht bei Anhängern des Regimes eine unerklärliche Freude über die blutige Konfrontation. Ihre Sinnlosigkeit mindert in keiner Weise die Überzeugung, dass sie richtig sei.

So wie das Z-Symbol stark aufgeladen, aber inhaltslos ist, so steht auch hinter dem «Zigismus» Sinnlehre und intellektuelle Ohnmacht. Und mehr noch: Sowohl das Z wie auch die Idee eines Sieges sind in Wahrheit zutiefst apolitisch, sie haben keine Bedeutung und tangieren keine wirklichen Anliegen der russischen Bevölkerung. Im Gegenteil, sie lenken von diesen ab. «Zigismus» steht für eine Herrschaftsordnung, in der es keinen politischen Raum geben soll.

Nur nicht mehr lügen müssen

Viele von den schätzungsweise hunderttausend Menschen, die Russland nach dem 24. Februar verlassen haben, sagen: Ich konnte nicht bleiben, weil ich nicht mehr lügen wollte. Der Akzent liegt dabei auf «nicht mehr»: Was jahrelang ging, was man bereit war zu ignorieren, zu verspotten, zu verharmlosen, ist nun nicht mehr akzeptabel. Der Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte schmerzt, sie stellen sich nun als ein fataler Irrtum dar. Viele gutgemeinten Bemühungen und Initiativen blieben letzten Endes ergebnislos, viele neu aufgebaute Existenzen scheiterten.

Vor allem erweist sich für Menschen, die jetzt in Exil gehen, die Existenzformel «Ich bewege mich jenseits der Politik» («ja vne politiki») als nicht länger haltbar. Putins Regime profitierte von den sprudelnden Einnahmen aus dem Gas- und Ölhandel, aber auch von den vielen Menschen, die lieber nicht wissen wollten, was die Staatsspitze treibt. Was auch immer «da oben» passierte, die Bevölkerung wusste, dass es besser ist, sich nicht dafür zu interessieren.

Es ist eine ideale Situation, um einen Krieg zu beginnen. In den Medien kommt er als Wort nicht vor, und auch die ukrainische Armee gibt es nicht. Stattdessen ist die Rede von «Kämpfern», «Nationalbataillonen», «Nationalisten» oder «Neonazis», die – seit vielen Wochen! − in der Ukraine gegen die russische Armee wider ihre «Befreiung» kämpfen. Niemand kommt auf die Idee, sich zu fragen, was denn die regulären Einheiten der ukrainischen Armee für eine Rolle spielen.

Derweil gilt für Antikriegsproteste in Russland eine Androhung hoher Strafen. Das Plakat «Nein zum Krieg» stellt eine Diffamierung der Armee dar, ein auf Social Media gepostetes Foto vom zerbombten Mariupol Extremismus, der Slogan «Stimme gegen Putin» Hooliganismus. Die Mühe, das Ganze logisch zu ordnen, spart man sich lieber. Überhaupt berichten russische Soziologen, dass es derzeit sehr viel mehr um Glauben als um Denken geht. Die zahlreichen Konflikte in den Familien und unter Freunden entzünden sich an der Frage, woran man «glaubt».

Selbst jene, die wissen müssen, dass die Realitäten in der Ukraine nicht die des Fernsehens sind, wollen nicht zum Wissen durchdringen. So wie viele in Russland bis heute nicht an das Ausmass des Staatsterrors und der Massenvernichtung unter Stalin glauben wollen, halten sie die Verbrechen der russischen Armee in den beiden Tschetschenienkriegen für unmöglich, wollen nicht sehen, dass Russland 2014 einen hybriden Krieg im Donbass begann, weisen zurück, dass Alexei Nawalny vergiftet wurde, und verweigern sich der Einsicht, dass die russische Armee ukrainische Städte samt Bevölkerung zu vernichten trachtet.

Das Ausblenden der Realität stellt eine der wichtigsten Maximen in der politischen Kultur des heutigen Russlands dar. Nur noch zwei Arten von Loyalität sind erlaubt: eine laute und aufrichtige sowie eine schweigende und heuchlerische Unterstützung, eine Loyalität «als ob». Viele Jahre war es für die urbanen Mittel- und Oberschichten möglich, apolitisch unter Putin zu leben und an den Segnungen des Wohlstands teilzuhaben. Das Regime setzte nur so viel Lüge, repressive Gewalt ein wie nötig, um die Bevölkerung vom politischen Engagement fern zu halten – nicht mehr.

So entstand eine Pufferzone zwischen der Bevölkerung und der Staatselite beziehungsweise Staatsbürokratie, ein Tabubereich. «Lass uns nicht über Politik reden» oder «Ich will nichts mit der Politik zu tun haben», diese Einstellung wurde zu einer Grundhaltung. Und dies nicht nur in Russland, auch westliche Akteure liessen sich gerne von Putin einseifen um den Preis eines komplizenhaften oder gleichgültigen Schweigens.

«So liegt die Gefahr der Propaganda, sofern sie Tatsachen verschleiert oder leugnet, nicht nur im Ruin der freien Meinungsbildung, sondern auch in der Pervertierung der echten politischen Konflikte, die ja im Tatsächlichen ihren Grund haben», hält Hannah Arendt treffend fest. Der Begriff Politik wird in Russland mit Staatsmacht und Putin gleichgesetzt, «politisch sein» heisst, kritisch gegen das herrschende Regime zu sein. Viel mehr ist vom Politischen nicht geblieben.

Die Willkür der korrupten Staatsspitze wird von der Beliebigkeit ihrer Sprache getragen. Begriffe werden zynisch verdreht und profaniert, die Sprache darbt und verdurstet. Was auch immer passiert, die Führung um Putin wird es so bezeichnen, wie es ihr gerade passt. Und was kann man einer Sprache entgegensetzen, die so beliebig ist,dass in ihr semantische und logische Normen nicht mehr gelten?

Falscher Trost

Zersetzung und Manipulation waren von Anfang an die Mittel, mit denen der KGB-Mann Putin das Land regierte. Das «innenpolitische Experiment der Transformation der Tatsächlichkeit in die Fiktion», um wieder den treffenden Ausdruck von Arendt zu bemühen, ist Putin perfekt gelungen. Zweiundzwanzig Jahre ist er mittlerweile an der Macht, kein einziges politisches Programm, keine einzige politische Idee, keine einzige Vision vermochte er in dieser Zeit zu präsentieren, nicht einmal eine echte Ideologie, sondern nur ideologischen Nebel, der vor sich hin wabert.

Sein Regime unterscheidet sich in drei Punkten von der totalitären Sowjetunion unter Stalin: 1) Die Grenzen bleiben offen, damit alle «Verräter» und «inneren Feinde» das Land verlassen können und Massenverhaftungen und Massenerschiessungen vermeidbar sind. 2) Es gibt keine führende Partei, keine breite politische Bewegung, welche die Macht innehat. 3) Und folglich auch keine Utopie, welche die Bevölkerung für eine bessere Zukunft mobilisieren kann.

Es ist dies für Putin und seine Kumpane die massgebliche Lehre aus dem Zerfall der Sowjetunion. Der autoritäre Staat kann an einer Mobilisierung der Bevölkerung auch zugrunde gehen. Die autoritäre Macht steht ohne eine politische Vision weit besser da. Mit dem Verweis auf ein dystopisches, «kaputtes» Weltbild, in dem es keine normativen Muster mehr gibt, soll der Bürger so weit wie möglich vom politischen Raum ferngehalten werden.

Nicht mit Hoffnung und Utopie, sondern mit Enttäuschung und Nostalgie lässt sich die Macht zementieren. Es ist dies eine neue Art von nihilistischem Autoritarismus, der mit Sinnlosigkeit und Absurdität wuchert und nicht mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft. Was Russlands Menschen als «Trost» bleibt, ist der Stolz auf die eigene verklärte Geschichte, die es so nie gegeben hat.

Anna Schor-Tschudnowskaja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Psychologie der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Forschungsschwerpunkte: gesellschaftlicher Wandel und politische Kultur im postsowjetischen Russland.

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Markus Orgis

Der Autorin - und auch der Redaktion - ein großer Dank für diesen großartigen Beitrag zum besseren Verständnis der so unmenschlichen Realität, die über die Bevölkerung der Ukraine hereingebrochen ist. All denen, die uns noch immer weismachen wollen, der Westen, die USA oder die NATO hätten Putin zu diesem verbrecherischen Vorgehen „gezwungen“ - und es gibt in den Leserbriefspalten noch allzu viele davon - sollte dieser Artikel täglich einmal vorgelesen werden, zusammen mit demjenigen über das Verhalten der russischen Mütter und Ehefrauen russischer Soldaten. Gibt es ein „Verschulden“ des Westens (man braucht dabei nicht immer auf Deutschland herumzuhacken), so liegt sie darin, während 20 Jahren die wahren Ambitionen Putins nicht erkannt oder - Warnsignale gab es mehr als genug - nicht ernst genommen zu haben. Was sich derzeit abspielt, entspricht vollständig der Vision Orwells, die wir immer noch als Utopie auffassen wollen, weil dies eben bequemer ist. Und so sind es unsere mangelhaften Geschichtskenntnisse und unser Hang zur Realitätsflucht (oder zur Oberflächlichkeit), welche uns und unsere Politiker, die wir zu wählen die Möglichkeit haben, zu Mitschuldigen machen: Auch wir im Westen sind anfällig für “double speak” und “double think”! Der “charmante“ Herr Putin überreicht Frau Merkel Blumen zum Abschied - die Angriffspläne gegen die Ukraine liegen in der obersten Schublade bereit. Erinnern wir uns an die telegene Szene?

E. F.

Danke Frau Schor-Tschudnowskaja für Ihren Kommentar. Ihre Analyse gehört zum Besten was ich je über das verbrecherische System Putin gelesen habe. Dafür danke ich Ihnen bestens und erkläre Ihren Beitrag zur Pflichtlektüre für uns alle! Pascal Wehrle

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