Für Griechenland ist Mariupol mehr als nur eine ukrainische Stadt

Die schwer umkämpfte Stadt am Asowschen Meer ist das Zentrum der griechischen Minderheit in der Ukraine. Ihre Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die multikulturelle Identität der gesamten Region.

Volker Pabst, Istanbul
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Blick auf das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl in Mariupol, eines der grössten Stahlwerke der Ukraine, bevor es von russischen Truppen schwer beschädigt wurde.

Blick auf das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl in Mariupol, eines der grössten Stahlwerke der Ukraine, bevor es von russischen Truppen schwer beschädigt wurde.

Christopher Occhicone / Bloomberg

Guernica, Coventry, Grosny, Aleppo – Mariupol. Bei seiner Heimkehr nach Griechenland stellte der Diplomat Manolis Androulakis am Sonntag die Hafenstadt im Südosten der Ukraine in eine Reihe von Städten, deren Namen auf immer mit ihrer vollständigen kriegerischen Zerstörung in Verbindung stehen. Wie kein anderer Ort in der Ukraine steht Mariupol für Russlands gnadenlosen Krieg gegen die Zivilbevölkerung.

Die letzten Griechen am Schwarzen Meer

«Ich hoffe, niemand wird je wieder sehen, was ich gesehen habe», sagte Androulakis am Flughafen von Athen. Der junge Konsul war der letzte westliche Diplomat, der in Mariupol ausgeharrt hatte. Erst am 16. März verliess er die belagerte Stadt, um in einer viertägigen Reise über die Moldau nach Griechenland zu gelangen.

Die Berichte über die katastrophale humanitäre Lage in Mariupol, wo die Bevölkerung seit Wochen von der Wasser- und Elektrizitätsversorgung abgeschnitten ist, wo bis zu 90 Prozent der Gebäude beschädigt sind, wo Leichen aus Sicherheitsgründen nicht bestattet werden können und deshalb einfach liegen bleiben, lösen weltweit Entsetzen aus. Eine besondere Anteilnahme gibt es aber in Griechenland.

Mariupol ist das Zentrum des griechischen Lebens in der Ukraine und die einzige Stadt am Schwarzen Meer, wo die jahrtausendealte griechische Siedlungsgeschichte der Region noch fortbesteht. Etwa fünf Prozent der 450 000 Bewohner Mariupols bezeichneten sich bei der Volkszählung 2001 als ethnische Griechen. In einigen Dörfern im Umland ist der Anteil weit höher. Insgesamt zählt die Minderheit in der Region knapp 80 000 Personen. Androulakis’ Aufgabe war es auch, bei ihrer Evakuation behilflich zu sein.

Der griechische Generalkonsul Manolis Androulakis harrte bis zum 16. März in Mariupol aus und half bei der Evakuierung ethnischer Griechen.

Der griechische Generalkonsul Manolis Androulakis harrte bis zum 16. März in Mariupol aus und half bei der Evakuierung ethnischer Griechen.

Louiza Vradi / Reuters

Einwanderung aus Anatolien

Mariupol, die «Stadt Marias», wurde unter Katharina der Grossen gegründet, nachdem Russland 1774 im Russisch-Türkischen Krieg die Nordküste des Schwarzen Meeres unter seine Kontrolle gebracht hatte. Hierfür wurden Griechen von der Krim ans Asowsche Meer umgesiedelt. Einige von ihnen hatten sich während der jahrhundertelangen Nachbarschaft zu den Krimtataren sprachlich assimiliert und sprechen bis heute Tatarisch. Den christlichen Glauben haben sie aber behalten.

Hellenische Siedlungen gab es in der Region ab der Antike. Doch die meisten Griechen im Zarenreich waren sogenannte Pontosgriechen, Einwanderer aus Trabzon und anderen griechisch geprägten Städten Anatoliens. Die Arbeitsmigration nach Russland, für einige Jahre oder als permanente Auswanderung, war im 18. und 19. Jahrhundert ein prägender Bestandteil des Lebens vieler orthodoxer Christen im Osmanischen Reich.

Vertreibung unter Stalin

In der Sowjetunion profitierten in den ersten Jahren nach der Revolution fast alle Minderheiten von kulturellen Autonomierechten, auch die Griechen. Griechische Zeitungen wurden gedruckt, griechische Schulen eröffnet, der lokale, mit dem modernen Griechisch nur entfernt verwandte Dialekt wurde als Sprache kodifiziert. Für einige Jahre existierte am Asowschen Meer sogar ein autonomer griechischer Bezirk.

Unter Stalin wendete sich jedoch das Blatt. Die wirtschaftliche Bedeutung der Minderheit, die Handel und Seefahrt dominierte, ihre «bourgeoise» Identität, aber auch ihre anhaltenden Bindungen ins Ausland weckten das Misstrauen des Diktators.

Zwischen 1937 und 1949 wurde ein Grossteil der griechischen Bevölkerung der Sowjetunion nach Zentralasien deportiert, zuerst von der Krim, dann aus der Kuban-Region in Südrussland und zuletzt aus dem Kaukasus. Damit teilen die Griechen das Schicksal anderer Minderheiten, die Opfer von Stalins Nationalitätenpolitik wurden.

Ganz so systematisch wie bei den Tataren, Tschetschenen oder Deutschen verlief die Vertreibung allerdings nicht. Einige Gemeinden, allen voran jene von Mariupol, blieben von der Umsiedlung verschont, weshalb dort bis heute eine grössere Minderheit existiert.

An anderen Orten, wie auf der Krim oder in Odessa, wo diese einst eine grosse Rolle spielte, erlangte das griechische Leben jedoch nie mehr die Bedeutung, die es vor der Deportation hatte – obwohl nach Stalins Tod eine Rückkehr ins alte Siedlungsgebiet grundsätzlich möglich war.

Ein Ziel der Vertreibung war immer die kulturelle Assimilation. Für die allermeisten Angehörigen der Minderheit ist heute Russisch die Muttersprache. Der wohl bekannteste Grieche aus der ehemaligen Sowjetunion, der Oligarch Ivan Savvidis, dem unter anderem der Fussballklub Paok Thessaloniki gehört, spricht bis heute nur Russisch.

Der Oligarch Ivan Savvidis, dem der Fussballklub Paok Thessaloniki gehört, ist einer der bekanntesten Griechen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Der Oligarch Ivan Savvidis, dem der Fussballklub Paok Thessaloniki gehört, ist einer der bekanntesten Griechen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Alexandros Avramidis / Reuters

Neue Einwanderungswelle?

Ähnlich wie die sogenannten Spätaussiedler in Deutschland haben Diaspora-Griechen erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft. Allein im ersten Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wanderten 150 000 Personen aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land ein.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Krieg eine neue Migrationswelle auslöst, ist gross. Nicht nur die Stadt Mariupol, auch die griechisch geprägten Dörfer im Umland sollen weitgehend zerstört sein, wie die Präsidentin des griechischen Verbandes in der Ukraine in einem dramatischen Appell erklärte.

Der griechische Aussenminister Nikos Dendias erklärte am Dienstag, seine Regierung werde alles unternehmen, um das Überleben der Gemeinde in der Region zu sichern. Sobald dies möglich sei, wolle er persönlich einen humanitären Transport in die Stadt begleiten, sagte Dendias. Bereits vergangene Woche kündigte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis an, dass sein Land die zerstörte Geburtsklinik wieder aufbauen werde.

Wie in anderen Balkanstaaten mit traditionell starken prorussischen Sympathien ist in Griechenland das Bild des orthodoxen Bruders in Moskau durch den brutalen Angriff auf die Ukraine ins Wanken geraten. Das Schicksal der griechischen Gemeinde von Mariupol trägt weiter dazu bei.

Nur einen Tag nachdem zu Beginn des Krieges zehn ethnische Griechen ums Leben gekommen waren, kündigte Ministerpräsident Mitsotakis an, sein Land werde als einer der ersten Nato-Staaten überhaupt Waffen an die Ukraine liefern. Trotz der klaren Westausrichtung, die Athen bereits unter Mitsotakis’ Vorgänger Tsipras eingeschlagen hatte, ist das ein im Land nicht unumstrittener Bruch mit Jahrzehnten griechischer Aussenpolitik.