In Mariupol findet ein militärisches Endspiel statt, das zum Menetekel der Zukunft Europas werden könnte

Bis vor kurzem war die am Asowschen Meer gelegene ukrainische Hafenstadt Mariupol nur wenigen ein Begriff. Heute findet dort im Würgegriff russischer Belagerung ein militärisches Endspiel statt, das zum Menetekel der Zukunft Europas werden könnte.

Karl Schlögel
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Durchschlagende Zerstörung – ein Wohnblock im Süden der Stadt.

Durchschlagende Zerstörung – ein Wohnblock im Süden der Stadt.

Pavel Klimov / Reuters

Ich war zum ersten Mal in Mariupol im Frühjahr 2014, auf dem Weg von Donezk nach Odessa. Die Krim war gerade besetzt worden, in Donezk hatten Moskauer Spezialkräfte die Verwaltungsgebäude gestürmt. Reisende durften die Busbahnhöfe in Mariupol und Berdjansk nicht verlassen. Es sei zu unsicher und gefährlich. Dort kam es in den folgenden Monaten zu Unruhen und einer zeitweiligen Machtergreifung prorussischer Aufständischer.

Seither ging der Beschuss der Stadt aus den von Separatisten besetzten Gebieten weiter, die Grenze verlief nur wenige Kilometer jenseits der Stadt. Hinzu kam nach dem Bau der Brücke über die Meerenge von Kertsch und Übergriffen auf ukrainische Schiffe der wachsende Druck auf den immerhin zweitgrössten Hafen der Ukraine.

Als ich das zweite Mal im Sommer 2018 nach Mariupol kam, konnte man die Angespanntheit noch spüren. Der internationale Flughafen war geschlossen, die Anreise mit dem Nachtzug aus Kiew war umständlich und langwierig, führte an der sogenannten Kontaktlinie entlang. Und dennoch: Im Rückblick von heute, da die Stadt weitgehend in Trümmern liegt, war es ein Wunder an Normalität. «Eine Brücke aus Papier» war der Titel der Konferenz von deutschen und ukrainischen Schriftstellern, die die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, dass es eine Sprache geben müsste, die sich dem Sog der Verfeindung entziehen könnte. An die nahe Grenze durften wir nicht, aber Serhij Zhadan las den Freiwilligen auf vorgeschobenem Posten aus seinen Texten vor.

Stimmung des Aufbruchs

Die meisten Teilnehmer, nicht nur die deutschen, verbanden kaum etwas mit dem Namen Mariupol. Wir hörten von den Problemen der Umweltverschmutzung, sahen die in allen Farben leuchtenden Rauch- und Abgasschwaden, die aus Hochöfen und Schornsteinen entwichen. Wichtiger als der Krieg und die ewigen kleineren oder grösseren Scharmützel schienen damals die Umweltprobleme der Betriebe, die seit der Privatisierung Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine, gehörten.

Unübersehbar das mächtigste Wahrzeichen der Stadt – das Stahlwerk Asowstal.

Unübersehbar das mächtigste Wahrzeichen der Stadt – das Stahlwerk Asowstal.

Elizaveta Becker / Ullstein / Getty
Dolce vita am Asowschen Meer in der Zeit vor dem Krieg.

Dolce vita am Asowschen Meer in der Zeit vor dem Krieg.

Vincent Mundy / Bloomberg

Aber selbst am äussersten südöstlichen Ende der Ukraine – die Grenze zu Russland ist unter Normalverhältnissen nur eine Autostunde entfernt – gab es wie überall im Lande eine Stimmung des Aufbruchs. Vom Busbahnhof konnte man jederzeit überallhin in Europa fahren. Man hörte am Englisch der jungen Leute, dass viele im Ausland gewesen waren. Das Stadtbild hatte sich verändert, Hotels und Pensionen waren auf den neuesten Stand gebracht. Es gab eine «Kreativszene», die die gewaltigen Docks im Hafen für nächtliche Inszenierungen nutzte.

Nun, da unser Blick auf die Stadt geschärft ist durch die entsetzlichen Bilder von zerschossenen Gebäuden und Massengräbern in den Höfen der Plattenbausiedlungen, wird erst deutlich, was Mariupol vor dem russischen Angriff war: eine Grossstadt mit einer halben Million Einwohnern mit allem, was dazugehört – Staus auf den Strassen, funktionierendem öffentlichem Verkehr, neuen Supermärkten und Einkaufszentren, Bürobauten, Parkanlagen, Kinos, Diskotheken und Klubs. Kurz: mit allem, was eine europäische Metropole ausmacht, die die sowjetische Provinzialität hinter sich gebracht hatte, von der der Kultfilm «Kleine Vera» von Ende der achtziger Jahre noch einen Eindruck vermittelte – er spielte in Mariupol.

Die Wiederentdeckung des Eigenen

Zum neuen Mariupol gehörte auch die Wiederentdeckung der Geschichte der eigenen Stadt. Dass es eine alte Kosakenfestung und massgeblich von Schwarzmeergriechen aus Kleinasien und der Krim Ende des 18. Jahrhunderts besiedelte Stadt war, daran erinnerte nun eine Strasse, die wieder die Griechische Strasse hiess, mit gediegenen Villen griechischer Kaufleute und Unternehmer.

Auf den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung der Stadt um 1900 deuten Gebäude im historistischen Stil wie das ehemalige Hotel Kontinental, Bank- und Redaktionsgebäude, der neogotische Wasserturm, der erstaunlicherweise alle Zerstörungen des 20. Jahrhunderts überstanden hatte. Das Haus des Kaufmanns Nathan Rjabinkin oder die Ruine der Synagoge in der Georgiewska-Strasse zeugen von einer bedeutenden jüdischen Gemeinde, die nach dem Einmarsch der Deutschen im Oktober 1941 vor den Toren der Stadt vernichtet wurde.

Historisches Bild der Choral-Synagoge.

Historisches Bild der Choral-Synagoge.

pd

Auch der Konstruktivismus der zwanziger Jahre hat auf dem Friedensprospekt seine Spur hinterlassen. Am massivsten präsent im alten Stadtzentrum sind die nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Bauten des Stalinschen Empire. An vielen Gebäuden lassen sich die Brüche des 20. Jahrhunderts ablesen. Das Haus des Anwalts Jurjew diente der örtlichen Zeitung, dem sowjetischen Geheimdienst NKWD und in der Zeit der deutschen Besetzung der Gestapo als Domizil. Zahlreiche Kirchen wurden in den dreissiger Jahren abgerissen, eine an der Stelle, wo nach dem Krieg jenes Schauspielhaus errichtet wurde, das uns heute als Zufluchtsort von Hunderten von Zivilisten vor Augen steht, die nach einem gezielten russischen Raketenangriff den Tod fanden.

Einst der zweitgrösste Hafen des Ukraine.

Einst der zweitgrösste Hafen des Ukraine.

Vincent Mundy / Bloomberg
Das Theater vor der totalen Zerstörung, 2021

Das Theater vor der totalen Zerstörung, 2021

Nur das Modernste ist gut genug

Alle Wege und Prospekte Mariupols scheinen auf die grossen metallurgischen Kombinate hinzuführen – auf die Metallurgischen Werke Iljitsch und auf Asowstal auf der anderen Seite des Kalmius-Flusses, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Ihre Hochöfen, Walzwerke, Maschinenhallen und Schornsteine bilden die erhabene Skyline von Mariupol, die Schichtwechsel der Arbeiter – es waren einmal 40 000 – definierten den Lebensrhythmus der ganzen Stadt, ihre Werksgeschichte ist auch die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert. Sie stehen für den Aufstieg Mariupols zum Zentrum der ukrainischen Stahlindustrie und zu einem der grössten metallurgischen Komplexe der Welt.

Am Anfang der Iljitsch-Werke, die aus der Providence Russe Co. 1896 hervorgegangen sind, standen amerikanische Ingenieure und belgisches Kapital. Asowstal, das andere Werk, gegründet während des ersten Fünfjahresplans, stand in einer Reihe mit anderen «Grossbaustellen des Kommunismus» wie Magnitogorsk und Kusbass. Mariupol lag mit der Eisenbahnlinie und seinem Seehafen im Schnittpunkt der Kohle- und Erzlagerstätten und schöpfte aus dem unendlichen Reservoir an bäuerlichen Arbeitskräften, die, von Kollektivierung und Hungersnot getrieben, vom Land in die Städte strömten.

Nur das Modernste war gut genug. Ausrüstungen von Siemens-Schuckert, Demag, Metro Vickers, Schloemann. Die Mariupoler Betriebe lieferten alles, was für die Modernisierung des Agrarlandes notwendig war: Gusseisen, Stahl, Röhren, Brückenträger, Gleise, Panzerzüge. Was nicht rechtzeitig vor der deutschen Besatzung demontiert werden konnte, wurde im Namen des Treuhandbetriebs der Bergbau- und Metallgesellschaft Ost m. b. H. an die Friedrich Krupp AG übergeben.

Obwohl das Werk schwer beschädigt war, wurde die Produktion schon bald nach der Rückeroberung wieder aufgenommen – und so, als hätte man schon an den nächsten Krieg gedacht, mit jenen unterirdischen Anlagen ausgestattet, jener «Stadt unter der Stadt», die jetzt zum Zufluchtsort der Verteidiger Mariupols gegen die russischen Aggressoren geworden sind. Asowstal – ein Symbol des Aufbaus und der Industrialisierung, nun abermals Symbol der Zerstörung einer in die Steinzeit zurückgebombten Stadt.

Der Punkt, an dem dies geschieht und wo es zum Entscheidungs- und Endkampf kommt, das Areal des Kombinats, dieser Stadt in der Stadt, ist auf Satelliten- und Drohnenaufnahmen gut erkennbar. Die neue Technik macht uns zu Augenzeugen einer furchtbaren Schlacht. Gut erkennbar ist die rostbraun eingefärbte Fläche, an die man sich heranzoomen kann.

Festung Europas

Ein Blick von oben auf die von Menschen geschaffene Industrielandschaft des 20. Jahrhunderts, nun den russischen Bomben- und Raketenangriffen preisgegeben. Der tschechische Fotograf Viktor Macha hat im Jahre 2016 die monumentalen Fabrikanlagen dokumentiert, nicht wissend, dass diese Werke einmal der Rückzugsort für die letzten Verteidiger Mariupols gegen Putins Truppen werden würden, zum letzten Zufluchtsort für die Bewohner, die es nicht mehr geschafft hatten, die eingeschlossene Stadt zu verlassen. Was Generationen buchstäblich im Schweisse ihres Angesichts aufgebaut haben, ist nun das Ziel systematischer und beispielloser Destruktivität geworden.

Ein Denkmal für den ewigen Metallarbeiter.

Ein Denkmal für den ewigen Metallarbeiter.

Pierre Crom / Getty
Gemütlich war es hier noch nie, aber nun ist Mariupol zur Hölle geworden.

Gemütlich war es hier noch nie, aber nun ist Mariupol zur Hölle geworden.

Ilya Pitalev / Imago

Was dort im Tunnelsystem der Stadt unterhalb der Stadt vor sich geht, können auch die drastischsten Schilderungen des Kommandeurs Serhi Wolina kaum wiedergeben. Ohne Wasser, ohne Lebensmittel, Hunderte von verwundeten Soldaten und Zivilisten, die nicht versorgt werden können – und dies unter permanentem Beschuss.

Wir haben die Leningrader-Blockade-Tagebücher der Lydia Ginsburg gelesen, die Zeugenaussagen der Überlebenden des Warschauer-Ghetto-Aufstandes, die Aufzeichnungen des Hans Graf von Lehndorff aus dem eingeschlossenen Königsberg oder Wassili Grossmans Stalingrad-Epos. Asowstal ist in diesen Tagen die Festung, in der nicht nur Mariupol, nicht nur die Ukraine verteidigt wird, sondern Europa, das die Kraft nicht aufbringt, der Stadt zu Hilfe zu eilen.

Karl Schlögel ist Osteuropahistoriker und Buchautor. Im Jahr 2015 ist von ihm bei Hanser erschienen: «Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen».