Was kann denn Tolstoi dafür? – Eine Antwort auf Oksana Sabuschkos Polemik zur Abwertung der russischen Literatur

In einer scharfen Anklage hat die bekannte ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko die These aufgestellt, Europa habe sich durch einen als Leidenskult getarnten vermeintlichen «Humanismus» in der russischen Literatur blenden lassen. Dieser habe letztlich mit zum Massaker von Butscha geführt. – Eine Replik.

Jens Herlth
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Ein Z für Putins ukrainische «Spezialoperation» im russischen Tschita.

Ein Z für Putins ukrainische «Spezialoperation» im russischen Tschita.

Evgeny Yepanchintsev / Imago

Am 28. April erschien in der NZZ ein Beitrag, in dem die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko vor dem Hintergrund der Verbrechen von Butscha mit der russischen Literatur abrechnet. Diese habe durch ihren moralischen Relativismus und ihre «Sympathie für die Verbrecher» den Boden bereitet für die Untaten der russischen Soldateska, so die Autorin. Ihr Text möchte ein für alle Mal klarstellen, dass Russland und die russische Kultur nicht zu Europa gehören, ja dass sie strenggenommen nicht einmal zur Welt der Menschen gehören.

Denn Russland ist das Reich des Bösen. Schon der «Versuch, den Standpunkt des Verbrechers einzunehmen, seine Motive und Ziele zu verstehen», ist laut Sabuschko moralisch verwerflich. Genauso wie wohl auch jeder Versuch der Differenzierung, der etwa darlegen würde, dass viele der Soldaten der russischen Armee selbst Opfer eines strukturell rassistischen autoritären Regimes geworden sind: Denn sonst hätten wohl kaum entlegene und unterprivilegierte Regionen wie Burjatien und Dagestan den höchsten Anteil an Gefallenen zu verzeichnen.

Mythisches Weltbild

Sabuschko denkt nicht historisch, sondern mythisch; ihrem Weltbild entziehen sich Prozesse in der realen historischen und politischen Welt, in der selbst Putin und seine Schergen Menschen mit Motiven und Interessen sind, die sich beschreiben und analysieren lassen. In ukrainischen sozialen Netzwerken werden die russischen Soldaten wahlweise als «Orks» oder als «Nichtmenschen» beschrieben, und es wird davon schwadroniert, dass man mit ihrem verbrannten Fleisch die «ohnehin schon sehr fruchtbare ukrainische Erde» düngen wolle. Eine solche Rhetorik mag emotional nachvollziehbar sein, aber sie bleibt doch menschenverachtend.

Oksana Sabuschko nimmt in ihrer Polemik rundweg die ganze russische Literatur in Haftung. Denn die russische Literatur hat sich den Herrschenden verkauft, sie hat sich prostituiert – genau wie die weibliche Heldin in Tolstois letztem Roman «Auferstehung». Damit verfällt Sabuschko in das patriarchalische Bewertungs- und Erniedrigungsmuster, das Tolstoi in seinem Roman gerade attackiert: Nicht die junge Frau, die sich verkauft, ist schuldig, sondern der junge Adlige Dmitri Nechljudow, der sie zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs in diese Situation gebracht hat. Der Roman erzählt davon, wie er Einsicht in seine Schuld gewinnt. Soll das Erzählen davon, dass Menschen Fehler begehen und diese später bereuen, moralischer Relativismus sein?

Oksana Sabuschko unterstellt der russischen Literatur, sie zeige Sympathie für die Verbrecher. Und das sei hoffnungslos uneuropäisch. Nun waren Tolstoi und Dostojewski bei weitem nicht die einzigen europäischen Autoren, die sich im späten 19. Jahrhundert mit Fragen der sozialen, psychologischen oder gar genetischen Ursachen des Verbrechens auseinandersetzten. Sie waren auch nicht die einzigen, die sich für Gerichtsprozesse und Haftbedingungen interessierten. Das als uneuropäisch abzutun, verrät ein schiefes Bild von Europa. Oder sollte es die Empathie mit dem Sünder sein, die hier gebrandmarkt wird?

Tolstoi war Autor pazifistischer Traktate und wurde de facto exkommuniziert, weil er sich über die Dogmen und liturgischen Rituale der orthodoxen Staatskirche lustig gemacht hatte – und das auch noch in einem Roman mit dem Titel «Auferstehung», der am Ende in Bibelzitaten ausläuft. Mit dem Erlös aus dem Verkauf dieses Romans finanzierte er übrigens die Übersiedlung der Angehörigen der Sekte der Duchoborzen (Geisteskämpfer) aus dem Zarenreich nach Kanada: Die Duchoborzen wurden verfolgt, weil sie es ablehnten, Kriegsdienst zu leisten. Deshalb verwendete sich Tolstoi für sie.

Tolstois Welt ist komplex

Im achten und letzten Teil seines grossen Romans «Anna Karenina» beschreibt Tolstoi, wie eine Gesellschaft der Kriegspropaganda anheimfällt: Es war die Zeit der Aufstände der Serben und Bulgaren gegen die Osmanen. Die russischen Zeitungen waren voll von Berichten über Greueltaten der osmanischen Soldaten an der slawischen Zivilbevölkerung. In Russland solidarisierte man sich mit den Slawen auf dem Balkan. Man sammelte Hilfsgelder, junge Männer schlossen sich Freischärlerregimenten an.

Konstantin Lewin, neben der Titelheldin die zweite Hauptfigur des Romans, hat allerdings Zweifel an der moralischen Erpressung, der die russische Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Er verspürt kein unmittelbares Mitleid mit den Slawen auf dem Balkan, daher möchte er sich auch nicht für sie engagieren. Anders sein Halbbruder. Der ist Publizist; sein letztes Buch war ein Flop, und nun sieht er den Krieg auf dem Balkan als willkommene Gelegenheit, um seine Karriere neu zu lancieren. Wronski wiederum, der Geliebte Annas, schliesst sich nach ihrem Selbstmord den russischen Einheiten in Serbien an, weil er nicht weiss, was er sonst mit seinem Leben anstellen soll.

Tolstois Welt ist komplex: Die Solidarität mit Kriegsopfern dient als Vehikel für persönliche Eitelkeiten, die Teilnahme am Krieg wird zum Alibi für junge Männer in der Krise. Michail Katkow, der Herausgeber der Zeitschrift, in der «Anna Karenina» als Fortsetzungsroman erschien, und ein überzeugter Nationalist und Imperialist, war natürlich empört. Er lehnte es ab, den letzten Teil des Romans zu drucken. Stattdessen erklärte er in einer kleinen Notiz den Leserinnen und Lesern, der Roman sei mit dem Tod der Heldin ohnehin zu Ende: Was folge, seien irgendwelche belanglosen Gespräche über die Situation auf dem Balkan, ohne Relevanz für die Handlung. In Zeiten nationaler Aufwallung wird eben selektiv gelesen.

Im Chor derer, die die russische Literatur abwerten wollen, wie Oksana Sabuschko, oder gar zu ihrem «totalen Boykott» aufrufen, wie das ukrainische PEN-Zentrum in einer Verlautbarung vom 1. März 2022, klingt wohl nicht zuletzt Ärger darüber an, dass Tolstoi und Dostojewski auch heute noch so viel gelesen werden. Als verdanke sich ihre anhaltende Popularität nur der früheren Grossmachtstellung Russlands. Als sei es irgendwie stossend, dass einige der grössten Romane der Weltliteratur in russischer Sprache geschrieben wurden.

Das ist nationales Besitzstanddenken im Geiste des 19. Jahrhunderts. Der Sinn des Begriffs Weltliteratur liegt darin, dass diese Werke uns allen gehören, unabhängig von der Sprache, in der sie verfasst wurden. Nun sind es politische und wirtschaftliche Faktoren, die darüber entscheiden, ob ein Werk übersetzt und international wahrgenommen wird. Dies erklärt den Stellenwert der russischen Literatur in der Welt und vor allem den riesigen Nachholbedarf beim Übersetzen ukrainischer Literatur. Doch ist der weltliterarische Austausch kein Nullsummenspiel, in dem man den einen Texten Aufmerksamkeit entziehen muss, um sie anderen geben zu können.

Zweierlei Unglück

Der Einmarsch in der Ukraine ist ein Desaster für die russische Kultur. Das hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einem Interview mit russischen Journalisten klar zum Ausdruck gebracht: «Den grössten Schaden hat Wladimir Putin der russischen Sprache zugefügt.» Ein befreundeter russischer Schriftsteller sagte mir deprimiert: «Russland wird wie Nordkorea, nur schlechter organisiert.»

Selbstverständlich ist das Unglück vieler Russen ein anderes als das, erschossen, zerbombt oder vergewaltigt zu werden. Doch auch das Leben in Russland ist lebensgefährlich, wenn man als junger Mann in Burjatien oder Dagestan geboren wurde und dann mit unlauteren Methoden in einen Kriegseinsatz geschickt wird. Oder wenn man Oppositionspolitiker ist. Oder wenn man als Journalistin über Korruption oder über die Machenschaften tschetschenischer Todesschwadronen schreibt. Die Liste liesse sich fortsetzen; vor allem wird sie von Tag zu Tag länger.

Oksana Sabuschko will nicht zur Kenntnis nehmen, dass es regimekritische russische Autorinnen und Autoren wie Wladimir Sorokin, Ljudmila Ulitzkaja, Michail Schischkin, Sergei Lebedew oder Boris Akunin sind, die in den letzten Wochen die erhellendsten Statements zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine und zu den Verbrechen des Putin-Regimes publiziert haben. Überhaupt schaut sie auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit einer bemerkenswerten Brille: Es gibt nur ukrainische Opfer.

Dabei weiss auch sie, dass nicht zuletzt russische Schriftsteller sich gegen den Totalitarismus gewehrt haben und ihm zum Opfer gefallen sind. Und sie sollte auch wissen, dass es ab dem frühen 19. Jahrhundert für Dichter im Zarenreich zum guten Ton gehörte, sich nicht mit der Macht zu solidarisieren. Dostojewski wurde zum Tode verurteilt, weil er in einem oppositionellen Diskussionszirkel verkehrte, er stand bis wenige Jahre vor seinem Tod unter Polizeiaufsicht. Bei Tolstoi gab es Hausdurchsuchungen; er wurde nur deshalb nicht verhaftet, weil er ein weltberühmter Autor war.

Es stimmt allerdings: Dieselben Autoren waren oft genug blind für das imperiale Mindset, das sie in ihren Werken transportierten. Joseph Brodskys vielkritisiertes Scherzgedicht «Auf die Unabhängigkeit der Ukraine» von 1991 ist hier ein beredtes Zeugnis. Doch bei genauerer Hinsicht entpuppt es sich in seiner grotesken Übersteigerung nationaler Stereotype als Rollenlyrik: Es ist nicht die Stimme Brodskys, die hier den Ukrainern vorwirft, dass sie ihren Borschtsch künftig allein essen möchten. Derart primitiv denkt allenfalls die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, die dem Publikum allen Ernstes weismachen wollte, das Nazitum der Ukrainer zeige sich nicht zuletzt darin, dass sie ihre Borschtsch-Rezepte nicht mit den Russen teilen wollten.

Die russische Literatur ist vielfältig und divers. Sie versucht alle möglichen Sphären der menschlichen Erfahrung zu erfassen. Vor allem vereinfacht sie die Welt nicht unzulässig, sondern mutet uns Komplexität zu, eine Komplexität, die Oksana Sabuschko hinter ihrer ethnonationalistischen Brille nicht wahrhaben möchte.

Jens Herlth lehrt Slawistik an der Universität Freiburg.

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