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Abtreibungsrecht in Polen Frauen in Not willkommen – außer sie wollen abtreiben

Kein Land der Welt hat so viele Frauen aus der Ukraine aufgenommen wie Polen. Doch selbst nach einer Vergewaltigung dürfen sie nicht abtreiben – einer der prominentesten Frauenrechtsaktivistinnen droht sogar Haft.
Junge Frau im Zug auf dem Weg aus der Ukraine

Junge Frau im Zug auf dem Weg aus der Ukraine

Foto: Narciso Contreras / Anadolu Agency / Getty Images
Globale Gesellschaft

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Justyna Wydrzyńska hat sichtbar wenig geschlafen, ihre Mitstreiterin Natalia Broniarczyk sitzt während des Videogesprächs sogar noch im Bett. Es ist einer der Osterfeiertage, die heilig sind in Polen. Doch für katholische Frömmigkeit haben die Frauen wenig Zeit. »Im März haben wir 573 Frauen geholfen, die nach einer Abtreibung fragten und 777 telefonisch beraten«, sagt Wydrzyńska. »Mehr als jede Zehnte davon kam aus der Ukraine, und es werden ständig noch mehr.«

Mit mehr als 2,6 Millionen Menschen nimmt zurzeit kaum ein anderes Land der Welt so viele Geflüchtete auf wie Polen. Und wohl nirgendwo sonst sind so viele der Schutzsuchende Frauen und Mädchen: 90 Prozent.

Ankommende Ukrainerin am polnischen Grenzübergang Kroscienko

Ankommende Ukrainerin am polnischen Grenzübergang Kroscienko

Foto: Enrico Mattia Del Punta / NurPhoto / Getty Images

Viele haben in der Ukraine Schreckliches erlebt. Fast alle mussten ohne männliche Partner, erwachsene Söhne oder Väter fliehen. Manche wurden vergewaltigt oder anderweitig Opfer von Gewalt. Etliche Schwangere wissen nicht, ob sie den Vater ihres ungeborenen Kindes je wiedersehen werden. Die Unsicherheit ist groß. Doch Abtreibungen sind in Polen seit 2020 praktisch verboten.

Wie weit die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen inzwischen geht, erfährt Justyna Wydrzyńska derzeit selbst. Weil sie einer Frau Abtreibungstabletten zuschickte, drohen ihr bis zu drei Jahre Haft. Die Schwangere sei Opfer häuslicher Gewalt gewesen, sagt Wydrzyńska. Allein mit einem kleinen Kind habe sie keine Möglichkeit gehabt, ohne ihren Mann ins Ausland zu reisen. »Was hätte ich tun sollen?«

Justyna Wydrzyńska vor Gericht in Warschau

Justyna Wydrzyńska vor Gericht in Warschau

Foto: Andrzej Hulimka / Forum / ddp

Es sei die erste Anklage dieser Art Europa, sagt die Organisation »Aborcyjny Dream Team«, die Wydrzyńska mit anderen gegründet hat. Wydrzyńska war einst selbst in einer vergleichbaren Situation wie die Frau, der sie half. »Ich habe mir damals geschworen, dass keine Frau mehr allein bleiben soll«, sagt sie, und ihre Mitstreiterin nickt. Viele Frauen der Gruppe haben erlebt, was es heißt, in einer Notlage einsam zu sein. Auch deshalb treten sie nun zusammen auf.

Der Prozess fällt nun in eine Zeit, in der Hilfsbereitschaft in Polen hoch im Kurs steht. Doch das Abtreibungsrecht kennt kaum noch Ausnahmen, nur in akuter Lebensgefahr dürfen Ärztinnen und Ärzte noch Abbrüche straffrei durchführen. Und selbst dann zögern inzwischen viele.

Tausende protestieren im November nach dem Tod einer schwangeren Frau, der eine Abtreibung verwehrt wurde

Tausende protestieren im November nach dem Tod einer schwangeren Frau, der eine Abtreibung verwehrt wurde

Foto: Wojtek Radawanski / AFP

Vor wenigen Monaten starb zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit eine Schwangere, nachdem ihr ein Abbruch verweigert worden war. Tausende gingen danach auf die Straße. Doch das geltende Recht blieb. In einer Mitteilung beklagte Präsident Andrzej Duda gar, dass nur »der Tod der Mutter« diskutiert worden sei und dass »leider nicht erwähnt wurde, dass auch ein Kind gestorben ist«. Eine von ihm versprochene Überarbeitung des Abtreibungsrechts steht bis heute aus.

Zu den Nebenklägern in Justyna Wydrzyńskas Fall gehört nun auch »Ordo Iurius«. Die nationalkonservative Organisation drängt Polen seit Jahren mit juristischen Feldzügen nach rechts. Nun will sie offenbar vor Gericht Einfluss nehmen – im Namen des nicht ausgetragenen Fötus und des mutmaßlich gewalttätigen Partners. »Es geht ihnen darum, einen Kulturkrieg anzuzetteln«, sagt Wydrzyńska. Sie selbst hat ebenfalls prominente Fürsprecher: Neben Amnesty International hat sich auch der Weltverband der Frauenärztinnen klar auf ihre Seite gestellt und ein Ende des Verfahrens gefordert.

»Die Frauen fühlen sich nicht sicher«

Justyna Wydrzyńska über ungewollt schwangere Ukrainerinnen

Wydrzyńska sagt, sie sei froh über die Unterstützung, freuen können sie sich nicht. Der Druck, der auf ihr laste, sei enorm. Vor Gericht erzählte sie von ihren eigenen Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. Von ihrer Überzeugung, weshalb Schwangerschaftsabbrüche legal und keine Straftat sein sollten. Danach brach sie in Tränen aus. Vor der Tür protestierten Dutzende für sie. Drinnen war sie allein.

Nach ihrer Aussage vertagte das Gericht das Verfahren ohne weitere Nachfragen. Erst im Sommer soll es weitergehen. Bis dahin wollen Justyna Wydrzyńska und ihre Organisation weiter Frauen helfen. Egal, ob sie aus Polen, der Ukraine oder einem anderen Land kommen.

Millionen Frauen aus der Ukraine haben Zuflucht in Polen gefunden. Bisweilen auch unter dem Dach der katholischen Kirche – wie hier in einem Kloster in Staniatki

Millionen Frauen aus der Ukraine haben Zuflucht in Polen gefunden. Bisweilen auch unter dem Dach der katholischen Kirche – wie hier in einem Kloster in Staniatki

Foto: Omar Marques / Getty Images

Durch die faktische Abschaffung legaler Abtreibungsmöglichkeiten liegt es nun komplett an Aktivistinnen, Frauen in Notlagen zu informieren, zu beraten. Dass Polen das strengste Abtreibungsrecht in Europa habe, sei den Geflüchteten aus der Ukraine oft schon bekannt, sagt Wydrzyńska. »Die Frauen fühlen sich nicht sicher. Wir kennen bereits Betroffene, die deshalb in ein anderes Land geflohen sind.«

Inzwischen diskutieren polnische Politiker, ob es zumindest vergewaltigten Ukrainerinnen ermöglicht werden solle, ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Für die Aktivistinnen von »Aborcyjny Dream Team« ist das keine Lösung, sondern bestenfalls der Ausdruck von Hilfslosigkeit. Vergewaltigungen ließen sich oft nicht nachweisen, schon gar nicht Wochen danach. Es gehe aber auch um Grundsätzliches: »Es ist zynisch, bestimmte Grundrechte an solche Umstände zu knüpfen«, sagt Natalia Broniarczyk. Oft seien die Frauen auch ohne Gewalttaten in einer Lage, in der sie nicht länger schwanger sein wollten. »In dieser Diskussion zeigt sich vor allem, wie wenig Selbstbestimmung in Polen noch wert ist.«

Für die kommenden Monate wollen sie, Justyna Wydrzyńska und die anderen nun die Hilfe weiter ausbauen. In den meisten Fällen organisieren sie, dass Abtreibungstabletten aus dem Ausland zugeschickt werden. Ein Schlupfloch, das noch funktioniert. Diese medizinische Methode ist in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen möglich.

In anderen Fällen vermitteln die Frauen Abbrüche bei Ärztinnen und Ärzten im benachbarten Ausland. Bei Bedarf stellen Freiwillige auch eine Unterkunft. Die jahrelangen Verschärfungen haben dafür gesorgt, dass heute in ganz Europa Frauen ehrenamtlich einander helfen. Mit »Abortion Without Borders« gibt es inzwischen ein internationales Netzwerk.

Für ihren eigenen Fall vor Gericht rechnet Wydrzyńska mit einer Verurteilung, »die Rechtslage ist klar«. Die Arbeit ihrer Gruppe funktioniere aber längst auch von allein. Kürzlich hätten Unbekannte an der polnisch-ukrainischen Grenze Flugblätter verteilt, mit übersetzten Nothilfeinformationen für flüchtende Frauen. Die Vorlage hatten sie vom »Aborcyjny Dream Team« genommen, ohne sich groß abzusprechen. Wydrzyńska lächelt kurz und hebt ihre Stimme, als sie davon erzählt. »Solange es Schwangere gibt, werden wir einander helfen.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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