Musik

ESC-Mission von Kalush Orchestra "Wir müssen gewinnen"

Vertreten die Ukraine beim ESC: Kalush Orchestra.

Vertreten die Ukraine beim ESC: Kalush Orchestra.

(Foto: picture alliance/dpa/UAPBC/ESC)

Mit Blick auf den Krieg gibt es für Oleh Psiuk nur eine Option: Die Ukraine muss ihn gewinnen. Dass er mit seiner Band Kalush Orchestra den ESC für sein Land gewinnt, gilt dagegen für viele schon als ausgemacht. Mit ntv.de spricht er über die Erwartungen, den Song "Stefania" und die "Plage des Krieges".

ntv.de: Die Band Kalush wurde bereits 2019 gegründet. Beim Eurovision Song Contest (ESC) tretet Ihr dagegen als Kalush Orchestra an. Was ist die Idee dahinter?

Oleh Psiuk ist Sänger und Mastermind der Gruppe.

Oleh Psiuk ist Sänger und Mastermind der Gruppe.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Oleh Psiuk: Kalush Orchestra wurde 2021 als Band mit sechs Musikern gegründet. Es ist eine Art Spin-off des ersten Projekts Kalush. Als Kalush Orchestra gehören wir zu den jungen Aushängeschildern einer pulsierenden ukrainischsprachigen Hip-Hop-Szene, die in den vergangenen paar Jahren einen Boom erlebt und im Kontext einer modernen urbanen Kultur Dutzende Top-Stars hervorgebracht hat.

Was zeichnet Kalush Orchestra dabei besonders aus?

Der entscheidende Unterschied von Kalush Orchestra zu anderen Bands in der Ukraine ist die Kombination traditioneller Musikelemente mit einem modernen Sound, zeitgenössischen Instrumenten, Hip-Hop-Rhythmen und ukrainischsprachigem Rap. Wir knüpfen an die alte ukrainische Folklore an, die viele Generationen umfasst, aber in Vergessenheit geraten ist. So entsteht eine Kombination aus der Musik unserer Vorfahren und dem, was junge Menschen heute mögen. Das beschreibt im Wesentlichen unsere Songs.

Du giltst als Mastermind von Kalush Orchestra. Wer sind deine Mitstreiter?

Zu den sechs Mitgliedern gehören die Multi-Instrumentalisten Tymofii Muzychuk, Vitalii Duzhyk und Oleksandr Slobodianyk. MC KylymMen ist unser Haupttänzer. Und Ihor Didenchuk ist ein Musiker, der über 30 Instrumente beherrscht und auch Teil der Band Go_A ist, die die Ukraine 2021 beim ESC vertreten hat. Alle Bandmitglieder von Kalush Orchestra haben bereits Erfahrungen in ukrainischen TV-Shows wie zum Beispiel "The Voice" oder "Ukraine's Got Talent" gesammelt. Sie spielen noch in weiteren Bands oder arbeiten mit anderen ukrainischen Hip-Hop-Künstlern zusammen.

Der Name Kalush geht auf deine gleichnamige Herkunftsstadt im Westen der Ukraine zurück. Wie erlebt dieser Ort derzeit den Krieg?

Die Ukrainer sind jetzt so geeint wie nie zuvor. Das ist unsere Stärke. Jeder von uns gibt sein Bestes, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Fast alle meine Freunde und Verwandten engagieren sich, einige haben sich der Verteidigung angeschlossen. Wie überall in der Ukraine gibt es natürlich auch in Kalush täglich Luftalarm. Alle Bewohner sind in ständiger Sorge, da niemand weiß, auf welche Stadt oder welches Haus die nächste Bombe der russischen Truppen fallen wird.

Wie habt ihr es unter diesen Umständen geschafft, euch auf den ESC zu fokussieren?

Wir glauben, dass auch wir mit unseren Aktivitäten unserem Land dienen. Mit unserer Musik können wir unsere Botschaft dem großen Eurovisions-Publikum übermitteln.

Vor knapp drei Wochen wurde im deutschen Fernsehen der Live-Auftritt einer ukrainischen Band gezeigt. Sie spielte in einem Bunker. Konntet ihr für den ESC überhaupt einigermaßen "normal" proben?

Lange war es nicht möglich, sich in der Ukraine persönlich zu treffen, weshalb wir online geprobt haben. Schließlich sind wir alle in Lwiw zusammengekommen, um dort unsere erste Probe, bei der alle wirklich anwesend waren, abzuhalten. Angesichts des Krieges waren die Vorbereitungen auf den ESC natürlich herausfordernd für uns. Aber wir geben unser Bestes, um eine gute Performance abzuliefern.

Vor einigen Wochen habt ihr bei Tiktok ein Video hochgeladen, auf dem zwei Männer in Tarnkleidung und mit Waffen zu sehen waren, die Mitglieder der Band zu sein schienen. Haben einige von euch auch im Krieg gekämpft?

Ja, MC KylymMen hat sich freiwillig den Verteidigungskräften angeschlossen und schützt jetzt Kiew.

Momentan dürfen eigentlich keine Männer zwischen 18 und 60 die Ukraine verlassen. Brauchtet ihr eine spezielle Erlaubnis, um am ESC teilzunehmen?

Ja, unser Team hat eine besondere Erlaubnis erhalten, um zum ESC zu reisen. Die Regierung musste zustimmen, um uns als Band die Ausreise zu ermöglichen. Wenn der Wettbewerb vorbei ist, müssen wir aber alle in die Ukraine zurückkehren.

Durch die Ukraine zu reisen, ist ja derzeit nicht ungefährlich. Wie seid ihr nach Turin gekommen?

Stimmt, momentan gibt es wirklich keinen Platz in der Ukraine, an dem man sich sicher fühlen könnte. Für den Verkehr gilt das nochmal besonders. Wir sind mit dem Auto nach Polen gefahren und von dort geflogen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es sich komisch anfühlt, aus einem Kriegsgebiet zu kommen und dann in den ESC-Trubel einzutauchen. Wie ist das für euch jetzt in Turin?

Die Gruppe bittet darum, diesen QR-Code, der zu einer Spenden-Seite für die Ukraine führt, zu teilen.

Die Gruppe bittet darum, diesen QR-Code, der zu einer Spenden-Seite für die Ukraine führt, zu teilen.

(Foto: Kalush Orchestra)

Natürlich begleitet uns alle die Sorge um unser Land, unsere Familien und Freunde, die jetzt in der Ukraine sind. Wir versuchen, mit ihnen telefonisch oder über die sozialen Netzwerke in Kontakt zu bleiben. Was gerade in der Ukraine passiert, schmerzt uns alle. Zugleich spüren wir aber auch die große Unterstützung von den Menschen, die wir in Europa treffen, den Eurovision-Fans. Manchmal kommen Journalisten, Mitarbeiter oder andere Menschen auf uns zu, um uns ihre Gedanken zum Krieg in der Ukraine mitzuteilen. Sie sagen uns, wie beeindruckt sie vom Mut und der Tapferkeit unserer Leute sind und wie sehr es sie schmerzt, das alles mit anzusehen.

Euer Song heißt "Stefania" und ist eine Hommage an deine Mutter. Was war die Idee dahinter?

Ja, "Stefania" habe ich für meine Mutter geschrieben, lange vor dem Beginn des Krieges. Ich hatte ihr noch nie einen Song gewidmet, wollte das aber schon lange tun. Es ist das Beste, was ich je für sie gemacht habe.

Er hat also eigentlich keinen Bezug zum Krieg ...

Mit ihrem Song "Stefania" treten Kalush Orchestra zunächst im ersten ESC-Halbfinale an.

Mit ihrem Song "Stefania" treten Kalush Orchestra zunächst im ersten ESC-Halbfinale an.

(Foto: picture alliance/dpa/EBU)

Nein, aber nach der russischen Invasion haben viele nach einer zusätzlichen Bedeutung des Songs gesucht. Zum Beispiel die, die traurig sind, ihre Mütter derzeit nicht sehen zu können. Andere sehen in "Stefania" einen Song für alle Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern und sie vor der Plage des Krieges beschützen. So ist aus dem Song über eine Mutter ein Song über das Mutterland geworden. Und so hat der Song Einzug in die Herzen und Ohren der Ukrainer gehalten.

Wie geht es deiner Mutter momentan?

Sie ist in Kalush, wo sie nach wie vor lebt. Wie jede Mutter wünscht sie sich, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Und sie betet für jeden Kämpfer der Ukraine, dass Gott ihn vor dem Tod bewahrt. Mich unterstützt sie ebenfalls sehr, auch aus der Ferne.

Viele Menschen sind aus der Ukraine geflohen - auch Mitglieder eurer Familien?

Nein, unsere Angehörigen sind alle in der Ukraine.

Go_A, mit denen Ihor Didenchuk die Ukraine im vergangenen Jahr vertreten hat, erreichten den fünften Platz. Was ist euer Ziel in Turin?

Unsere Mission ist, die Stimme der ukrainischen Menschen zu sein und ukrainische Musik nicht nur im Land selbst, sondern auf der ganzen Welt bekannt zu machen. Und wir wollen den Ukrainern in der Eurovisions-Nacht zeigen, dass sie nicht allein sind, dass ganz Europa in diesem brutalen Krieg auf uns blickt und uns unterstützt, weil es nur eine Lösung gibt: Wir müssen gewinnen.

Was den ESC angeht, sehen euch viele bereits als Sieger feststehen, um so ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Wie geht es euch damit?

Die Ukraine in diesen Tagen zu repräsentieren, ist sehr verantwortungsvoll. Am ESC teilzunehmen, ermöglicht es uns, international unsere Kultur zu präsentieren und die Stärke des ukrainischen Spirits auch im musikalischen Bereich zu demonstrieren. Für uns würde ein Sieg beim ESC eine große Wertschätzung für die ukrainische Musik, ihre Einzigartigkeit und Schönheit bedeuten. Wir glauben an unseren Song, der den Zeitgeist widerspiegelt.

Russland wurde nach dem Angriff auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen. Hättet ihr euch vorstellen können, die Bühne mit Interpreten oder Interpretinnen aus Russland zu teilen?

Egal, an welchem Wettbewerb man teilnimmt, macht man sich keine Gedanken darüber, aus welchem Land ein Teilnehmer kommt. Man misst ihn an seinem Beitrag zu dem Wettbewerb. Aber vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gerade gegen die Ukraine führt, halten wir die Entscheidung, Russland von dem Wettbewerb auszuschließen, für richtig.

Du sagtest, ihr müsst nach dem ESC in die Ukraine zurückkehren. Hast du eine Vorstellung, wie es dann weitergeht?

Egal, wie es ausgeht - nach dem ESC kehrt die Band in die Ukraine zurück.

Egal, wie es ausgeht - nach dem ESC kehrt die Band in die Ukraine zurück.

(Foto: picture alliance)

Nein, wir müssen abwarten, was dann passiert. Wegen des Krieges in der Ukraine ist es gerade schwierig, auch nur irgendetwas zu planen.

Das letzte Mal holte Jamala mit ihrem ESC-Sieg den Wettbewerb 2017 nach Kiew. Mal angenommen, ihr gewinnt in Turin - wie sähe der Contest im kommenden Jahr in deinen Träumen aus?

Wenn wir wirklich gewinnen sollten, findet er 2023 in der Ukraine statt. In einer neuen, geeinigten Ukraine, einem aufgebauten, florierenden und glücklichen Land.

Die Fragen an Oleh Psiuk stellte Volker Probst

Quelle: ntv.de

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