Im Jahr 1818 veröffentlichte die junge englische Autorin Mary Shelley anonym ihren Roman Frankenstein, dem in Film und Massenkultur, in Wort und Bild, ein langes Nachleben beschert sein sollte. Der Grund für seine Popularität lag wahrscheinlich weniger in seiner literarischen Qualität als in seinen prophetischen Einsichten. Frankensteins Monster wurde zum Symbol für die dunklen und destruktiven Kräfte, die außer Kontrolle ihrer Erschaffer und Aufpasser geraten, eine Metapher für riskante und unverantwortliche Experimente mit Natur und Mensch.

Wie es scheint, hat ein rund 30 Jahre währendes Experiment mit der russischen Demokratie ein ähnlich desaströses Resultat erbracht. Aus meiner Sicht ist das aber wahrscheinlich weniger eine Folge der angeblichen wesensmäßigen Unvereinbarkeit der Russen mit der Demokratie und dem Liberalismus, sondern das Ergebnis einer falschen Vorgehensweise und einer ganzen Menge an Fehlern, die die Experimentatoren gemacht haben.

Die vorherrschende, von Moskau propagierte und zumindest bis vor Kurzem von seinen diversen internationalen "Verstehern" mitgetragene Erzählung besagt, dass Russland seit Michail Gorbatschow und vor allem Boris Jelzin den Weg der demokratischen Entwicklung (wenn auch mit einigen örtlichen Besonderheiten und natürlich Unvollkommenheiten) eingeschlagen und eine freundliche oder zumindest nicht konfrontative Haltung gegenüber dem Westen eingenommen hat. Das mag so sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Sowjetunion in den späten Achtzigerjahren wirtschaftlich und politisch am Ende war. Gorbatschow hatte kaum eine andere Wahl, als die Auflösung des Sowjetblocks, der Sowjetunion und der kommunistischen Diktatur stillschweigend hinzunehmen. Weder er noch Boris Jelzin haben indessen je versucht, eine Nation aus den Trümmern des Weltreichs erstehen zu lassen – dieser Schritt wäre aber die unerlässliche Voraussetzung dafür gewesen, dass sich das Land modernisiert und wirksam absichert gegen imperiale Nostalgie und Verbitterung.

Imperiale Gewohnheiten

Das Gefühl der "Demütigung", dass Russlandversteher oft als Hauptgrund und bisweilen als Rechtfertigung für Putins Revisionismus anführen, resultierte in Wirklichkeit nicht aus einem Wunsch des Westens, Russland herabzusetzen und auszunutzen, sondern aus dem eklatanten Versäumnis der russischen politischen Klasse, sich von imperialen Gewohnheiten und einer überholten Identität zu befreien und das Land zu modernisieren. Der Westen trug seinen Teil zu diesem Versäumnis bei, aber nicht auf dem Wege einer "Demütigung". Vielmehr sah er wohlwollend über die räuberische Plünderung des Landes durch die russische Elite hinweg und verschloss beharrlich die Augen vor ihren neoimperialen Äußerungen und Unternehmungen.

Der Westen versuchte nicht, Russland zu demütigen, sondern zu beschwichtigen, und entwickelte diverse Strategien, um die junge Demokratie, die man hier sah, zu unterstützen. Russland wurde etwa unstreitig und ohne Vorbedingungen in den UN-Sicherheitsrat und schließlich in die G7 aufgenommen – obwohl es die Kriterien dieses Prestigeclubs weder politisch noch wirtschaftlich erfüllte. 1997 unterzeichnete die EU mit Russland ein umfassendes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (Pak), das 2010 (unter Präsident Medwedew) zu einer "Partnerschaft für Modernisierung" ausgebaut wurde – die viel ambitionierter war als die eher kraftlosen Programme der Östlichen Partnerschaft (ÖP), die für die westlichen postsowjetischen Republiken aufgelegt wurden. 2002 wurde der Nato-Russland-Rat eingerichtet, um Sicherheitsfragen und gemeinsame Projekte zu bearbeiten – und auch er war in Umfang und Ausrichtung ehrgeiziger als irgendein Programm zur Zusammenarbeit zwischen der Nato und der Ukraine oder Georgien zur damaligen Zeit. Zusätzlich bewilligte die EU in den Neunzigerjahren zur Unterstützung der Reformen im postsowjetischen Russland drei Milliarden US-Dollar für Moskau im Rahmen des Programms Tacis (Technische Hilfe für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). 

Die Geschichte vom westlichen "Verrat"

Sein Wunschdenken ließ den kollektiven Westen nicht nur die Augen vor Boris Jelzins Schwindeleien verschließen, sondern auch gegenüber seinem viel böswilligeren Nachfolger. Trotz der entsetzlichen Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk im Jahr 1999, die aufgrund zahlreicher Indizien vermutlich Putins Geheimdienst FSB zuzuschreiben sind, wurde er im Jahr 2000 im Bundestag mit stehenden Ovationen empfangen. Trotz bewiesener genozidaler Verbrechen in Tschetschenien wurde ihm 2006 in Paris der Orden der Ehrenlegion verliehen. Auf Putins Invasion in Georgien 2008 und die dauerhafte Besetzung von zwanzig Prozent georgischen Territoriums reagierte der Westen mit einem weiteren "Neustart" und einer weiteren Modernisierungspartnerschaft. Auf die Annexion der Krim und die Invasion des Donbass reagierte er mit milden Sanktionen und der leistungsfähigen Nord-Stream-2-Gasleitung. All dies stärkte Putins Selbstvertrauen und seine Überzeugung, dass alle Vertreter des Westens entweder korrupte Opportunisten sind wie er selbst oder aber harmlose Idioten, die sich in Wunschdenken ergehen.

Nur sehr wenige Experten (die sogleich als "russophob" galten) trauten sich zu sagen, dass Russland an keinerlei Partnerschaft interessiert war. Es strebte nach Vorherrschaft – vielleicht (noch) nicht über ganz Europa, aber auf jeden Fall über das, was als "traditionelle Einflusszone" gilt. Und da Russland nie über genügend Soft Power verfügte, um sich in dieser gemeinsamen Nachbarschaft mit dem Westen zu messen, stütze es sich zunehmend auf Zwang, Erpressung und Propaganda. So entstand die Geschichte vom westlichen "Verrat" – auch wenn kein schriftliches Dokument beweist, dass die Nato je versprochen hat, sich nicht nach Osten zu erweitern. Tatsächlich wäre ein solches Versprechen unbegreiflich und nicht praktikabel gewesen, weil es gegen den Nordatlantikvertrag und die zentralen Prinzipien der Organisation verstoßen hätte.

In Wirklichkeit haben weder Nato noch EU jemals versucht, die postkommunistischen Staaten zu einer Mitgliedschaft zu animieren. Ihre ursprüngliche Reaktion auf die Avancen der östlichen Länder war vielmehr äußerst verhalten. Es bedurfte großer Anstrengungen – sowohl auf internationaler diplomatischer Ebene als auch durch Reformen in den beitrittswilligen Ländern –, um den Westen davon zu überzeugen, sie nach und nach aufzunehmen. Nicht der Westen ist schuld daran, sondern Russland, dass es eher furchteinflößend als attraktiv für seine früheren Satellitenstaaten blieb und dass seine postsowjetische Entwicklung deren Befürchtungen und Misstrauen nicht zerstreuen konnte. Innenpolitisch stand die vermeintlich reformorientierte Regierung von Boris Jelzin zunehmend unter dem Druck einer braun-roten Koalition aus unverbesserlichen Kommunisten und Schirinowskis Faschisten, woraufhin die "Gemäßigten" ihre Rhetorik und Politik sukzessive in eine neoimperiale Richtung verlagerten. Auf internationaler Ebene unterstützten sie zum Beispiel die Sezessionsbestrebung auf der Krim, schürten Rebellionen in Transnistrien, Abchasien und Nordossetien und gingen in Tschetschenien mit brutaler militärischer Gewalt gegen die Bevölkerung vor. Vielleicht setzte seinerzeit nur ein Mangel an Ressourcen ihrem Großmachtstreben Grenzen.