Antirussland – Seite 1

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Niemand hätte gedacht, dass so ein Krieg – ein Bruderkrieg, ein Eroberungskrieg unter dem Vorwand billiger Provokationen – in unserem Jahrhundert noch möglich ist. Doch das heutige Russland befindet sich unter der Knute eines Mannes, dessen Geisteshaltung und bizarre Weltsicht offenbar in der Lage sind, ebendiese Welt zurück in die Vergangenheit zu katapultieren.

Seinen Hass und seine Verachtung gegenüber dem ukrainischen Staat in seiner heutigen Form hat Putin bereits früh zum Ausdruck gebracht. In einem programmatischen Artikel vom Juli vergangenen Jahres bezeichnete er die Ukraine als "Projekt Antirussland", als Russlands künstlichen Antipoden, den EU und USA zum Experimentierfeld ihrer antirussischen Kampagnen gemacht hätten.

Die Verschlossenheit, der Argwohn, das absolute Misstrauen unseres Präsidenten, seine verächtliche Haltung gegenüber der bloßen Vorstellung einer gleichberechtigten, nicht auf Eigeninteressen, sondern auf Werten basierenden Partnerschaft, sein ewiges Suchen nach der Arglist der "transozeanischen Partner", der USA – all das ließe sich auf eine déformation professionnelle zurückführen – die vielen Jahre im Dienst des KGB machen sich bemerkbar. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er nun schon 20 Jahre lang herrscht, die letzten zehn davon faktisch als absoluter Monarch, umgeben von einem Gefolge von Schmarotzern, die ihm alles verdanken, die er zu verachten gelernt hat und denen er offenbar auch nicht mehr vertraut – ein hinlänglich bekanntes Schicksal eines jeden absoluten Despoten.

Der heutige Putin stützt sich nicht mehr auf sein Volk, dessen Hoffnungen ihm gleichgültig sind. Er spricht auch nicht im Interesse der großen Unternehmen, die ihm allesamt hörig sind. Sowohl diesen als auch jenem bietet er nicht Brot, sondern Spiele: Auf die Begeisterung nach der Annexion der Krim folgten die Schrecken des Bürgerkriegs im Donbass, schließlich das Drama einer neuen Spirale des Kalten Krieges und nun die Unterwerfung der unbotmäßigen Ukraine.

Die Ukraine, sagt der russische Präsident, ist also "Antirussland". Doch was ist Putins Russland im Jahr 2022? Was für ein Land entsteht da unter seiner Führung, welches Erbe will er den kommenden Generationen hinterlassen? Fortlaufend beschuldigt Putin die ukrainischen Machthaber, dem Nazismus Vorschub zu leisten, tituliert sie als "Erben der ukrainischen Hilfspolizei" oder als banderowzy, wie die ukrainischen Ordnungseinheiten im Dienst der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg genannt wurden. Dabei zementiert er selbst gerade ein Herrschaftssystem, das im Wortsinn auf "Blut und Boden" basiert: Wie Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg bringt er alle Gebiete, in denen ehemalige Landsleute leben, "heim ins Reich" – oder wie der russische Ausdruck lautet, er "sammelt die Länder". Gleichzeitig verkünden die Propheten der sogenannten russischen Welt in propagandistischen Talkshows auf allen russischen Fernsehkanälen ihre Heilsbotschaft. Auf Ressentiments beruhende Vorstellungen von einer imperial-nationalistischen Revanche Russlands, gepaart mit Behauptungen über die Minderwertigkeit und Unselbstständigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken, werden unaufhörlich von einer Propaganda breitgetreten, die seit etwa zehn Jahren den Ton in den russischen Massenmedien angibt.

Putin sagt, die Ukraine sei durch und durch korrupt. Dabei hat gerade in Russland die Korruption staatlicher Institutionen ein solches Ausmaß erreicht, dass Großkonzerne (die über Strohmänner ohnehin längst der Machtelite gehören) heute weder von den Geheimdiensten zu trennen sind (welche die russischen Behörden und die Oligarchie wie ein Pilzgeflecht durchziehen) noch von der organisierten Kriminalität (die sich Dienste und Militär, anstatt sie zu bekämpfen, zu Diensten machten). Die Korruption ist in Russland kein Mangel des Staatsapparats, sie ist systemrelevant. Russland wird im Grunde von oligarchischen Beamten verwaltet, viele davon Veteranen des Inlandsgeheimdiensts FSB, deren Mentalität und Sprache aus der kriminellen Subkultur stammen. Kein Wunder also, dass sowohl die oberste Führung als auch die Diplomaten unseres Landes bisweilen in einen Gefängnisjargon verfallen und öffentlich Kraftausdrücke zum Besten geben.

Putin bezichtigt die Ukraine, die Pressefreiheit anzugreifen: Nachdem Russland die Krim annektiert und im Donbass mithilfe kremltreuer Partisanengruppen und Soldaten ohne Hoheitszeichen einen hybriden Krieg begonnen hatte, wurde in der Ukraine die Ausstrahlung russischer Medien eingeschränkt. Zu diesem Zeitpunkt agierten unsere Journalisten gegenüber der Kiewer Regierung wie eine militärische Sonderpropaganda, die die Ukrainer systematisch diskreditierte, ja, entmenschlichte, und so das russische TV-Publikum auf den "gerechten" Krieg gegen das "Marionettenregime" vorbereitete. Russische Politik ist in den letzten Jahren gleichsam aus unserem Fernsehen verschwunden: In allen Sendungen wird entweder das politische Leben der Ukraine durch den Schmutz gezogen oder die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen herbeigeredet. Die Grundhaltung dieser Shows, mit denen die öffentliche Meinung in Russland erfolgreich manipuliert wird, liegt auf einer Welle mit Putins Rhetorik. Man braucht also nicht lange zu fragen, wer ihr wichtigster Zuschauer und zugleich Ideengeber ist.

Die wenigen unabhängigen russischen Medien – insbesondere jene, die es gewagt hatten, investigativ gegen Korruption vorzugehen – wurden verfolgt und unterdrückt. Die besten davon wurden zu ausländischen Agenten erklärt: Nun sind sie verpflichtet, sämtliche Artikel und Tweets mit diesem Schandmal zu versehen. Bei einem Verstoß gegen die drakonischen Maßnahmen droht ihnen ein Strafverfahren. Alexej Nawalny wurden seine Antikorruptionsermittlungen erst mit einem Giftanschlag vergolten, nun bleibt er womöglich lebenslang hinter Gittern.

Putin spricht von der Verelendung der ukrainischen Bevölkerung sowie davon, dass fast jeder sechste Ukrainer sein Geld im Ausland verdienen müsse. Doch auch in Russland versinkt das Volk zunehmend in Armut. Der Borschtsch-Index – ein Kaufkraft-Indikator, der anhand der Zutaten für die beliebte Rote-Bete-Suppe berechnet wird, hat sich zwar innerhalb von fünf Jahren verdoppelt, das Einkommensniveau der Bevölkerung blieb jedoch gleich. Die Hälfte der russischen Jugendlichen will das Land verlassen.
Es scheint, als spreche Putin nicht von den Problemen der Ukraine, sondern von russischen. Woher dann aber diese unversöhnliche Feindschaft, woher all die Abneigung und Verachtung gegenüber der souveränen Ukraine, woher die standhafte Weigerung, an dieses Land zu glauben?

Die Ukraine ist ein Beispiel für eine funktionierende Demokratie

Ich habe die Ukraine oft besucht, sowohl vor als auch nach 2014. Mit jedem Jahr ist mir der Unterschied zwischen unseren beiden Ländern immer klarer geworden. Die Ukraine war und bleibt ein sehr freies Land. Ein Land, dessen gesellschaftliches und politisches Leben schon immer von Chaos geprägt war. Es hat starke Ähnlichkeit mit dem Russland aus der Zeit vor Wladimir Putins Amtsantritt und je länger Putins Macht anhielt, desto deutlicher traten die Unterschiede zutage. Von Jahr zu Jahr nahm in Russland die Ordnung zu und die Freiheit ab. Heute ist der Unterschied zur Ukraine enorm. Russland ist ein Polizeistaat mit nahezu diktatorischer Ordnung. Und auch von der Freiheit ist hier fast genauso viel übrig wie in einer Diktatur.

Die Ukraine dagegen ist tatsächlich zu einer Art Antirussland geworden: Trotz des Chaos und der totalen Korruption ist sie ein Beispiel für eine funktionierende Demokratie. Bei den Wahlen wechselte die Macht jeweils vom einen politisch-finanzwirtschaftlichen Konglomerat zum anderen. Versuchte eine der Parteien die Macht zu usurpieren, gingen die Menschen auf die Straße und forderten Gerechtigkeit. Zu den russischen Wahlen ist dagegen schon seit 20 Jahren keine reale Opposition mehr zugelassen worden.

In Russland hatte man immer nur die Wahl zwischen der amtierenden Regierung und offenkundigen Schreckgespenstern, die auf imperiale Nostalgie und nationalistischen Revanchismus setzten. Inzwischen ist die regierende Macht selbst zu einem solchen Schreckgespenst geworden, das genau diese Parolen wiederkäut und nun damit begonnen hat, das Frankenstein-Monster des großrussischen Reiches wiederzubeleben, indem es dem Rumpf des einstigen Mutterlands die Überreste längst abgestoßener Extremitäten anzunähen versucht.

In der Ukraine hat man den Versuch in Angriff genommen, einen modernen Nationalstaat zu errichten. Die Ukraine ist dabei weltoffen geblieben und hat nur die Skepsis des Westens beklagt, weil dieser zögerte, sie unter seine Fittiche zu nehmen. Russland dagegen hat sich immer mehr eingeigelt und abgeschottet und glaubt zunehmend selbst an die Behauptung eines existenziellen Konflikts mit dem Westen.

Das Hauptproblem der Ukraine besteht, wie mir scheint, gerade darin, dass sie Putin und der Welt aufzeigt, dass wir, die Russen, auch anders könnten: dass Menschen, die sich durch nichts von uns unterscheiden, die den gleichen Background, die gleiche Mentalität und Kultur haben, nicht unbedingt in Baracken hausen müssen, zu patriotischem Trommelwirbel und Kirchengesang, sondern in einem ganz normalen, modernen Land leben können. Dass es möglich ist, sich einem autoritären Regime zu widersetzen. Dass politische Eliten dem Volk Rechenschaft schuldig sind – und abgelöst werden können.
Würde man einer solchen Ukraine erlauben, weiterzuexistieren und sich weiterzuentwickeln, brächte dies das russische Modell in Verruf. Folglich hat unsere Propaganda keine Mühen gescheut, um die Ukraine zu verunglimpfen und anzuprangern. Und nun, da sich unser eigenes Modell in einer Sackgasse befindet, bleibt uns nichts anderes übrig, als dieses Antirussland zu vernichten.
Nein zum Krieg.

Aus dem Russischen von David Drevs