Gastkommentar

Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat – Wladimir Putin ist ein gelehriger Schüler Benito Mussolinis

Von seinen Gegnern wird Wladimir Putin gern als «Putler» bezeichnet. Die historische Analogie indes stimmt nicht, Putin ist kein Nazi. Dafür erfüllt er mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht. Das Gebot der Stunde ist daher, Russland zu entfaschisieren.

Wladislaw Inosemzew 105 Kommentare
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Russische Il-76 Militärtransportmaschinen überfliegen Moskau anlässlich der Feiern zum Sieg über Nazideutschland, 4. Mai 2020.

Russische Il-76 Militärtransportmaschinen überfliegen Moskau anlässlich der Feiern zum Sieg über Nazideutschland, 4. Mai 2020.

Maxim Shemetov / Reuters

Als Präsident Putin am 24. Februar grünes Licht für den Überfall auf die Ukraine gab, bestand er darauf, dass die russischen Streitkräfte im Nachbarland nur eine «Spezialoperation» durchführen würden, um es zu «entnazifizieren». Es beliebte ihm, das Vorgehen der Ukraine gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass als «Völkermord» zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine einzige grosse Lüge. Denn nicht die Ukraine, welche einen jüdischen Präsidenten hat und in welcher der Gebrauch der russischen Sprache weit verbreitet ist, ist unter die Kontrolle von «Nazis» geraten, sondern Russland selbst hat sich unter Putin zu einem klassischen faschistischen Staat entwickelt.

Die ukrainischen Kämpfer bezeichnen die russischen Invasoren nicht zufällig ständig als Faschisten und nennen den russischen Präsidenten «Putler», um die Parallelen zu Hitler zu unterstreichen. Spätestens nach dem Ausbruch des Krieges erscheint eine solche Formulierung naheliegend, aber die Debatte über die Ähnlichkeiten begann kurz nach der russischen Annexion der Krim, als Mikhail Iampolski (New York University) oder Alexander Motyl (Rutgers University) versuchten, Putins Staat als faschistisch darzustellen – ohne sichtbar Unterstützung aus der Zunft der Politikwissenschafter zu bekommen.

Ein Nazi ist Putin nicht

Ich habe damals in der russischen freien Presse positiv auf diesen Versuch reagiert und wurde später dafür verurteilt, unter anderem von Marlène Laruelle (George Washington University), die einen Sonderband zur Verteidigung von Putins Russland verfasst hat.

Ich möchte hier versuchen, mich dem Thema aus einer theoretischen Perspektive zu nähern und auf politische Etiketten zu verzichten. Dabei gehe ich von Robert Paxtons Definition des Faschismus aus. Danach ist Faschismus «eine Form politischen Verhaltens, die durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang der eigenen Gemeinschaft, ihrer Demütigung oder Opferrolle sowie durch kompensatorische Kulte von Einheit, Stärke und Reinheit gekennzeichnet ist, in denen eine Partei nationalistischer Kämpfer, die in loser, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten arbeitet, demokratische Freiheiten aufgibt und mit messianischer Gewalt und ohne ethische oder rechtliche Beschränkungen Ziele der internen Säuberung und externen Expansion verfolgt».

Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini propagierte.

Fast jeder dieser Punkte widerspiegelt, was sich seit Jahren in Putins Russland abspielt. Man könnte auch Merkmale hinzufügen, die Umberto Eco zum Verständnis des Faschismus beigesteuert hat, wie den «Kult der Tradition» (oder des «Konservatismus»), den Umstand, dass «Uneinigkeit Verrat ist» (was sich in der Suche nach «ausländischen Agenten» niederschlägt), die «Angst vor dem Unterschied» (präsent als fixe Idee von «Stabilität»), das Vertrauen auf «Antiintellektualismus und Irrationalismus» (was in Russland zur religiösen «Erweckung» geführt hat), die «Besessenheit von einer Verschwörung» (sprich: die Einflussnahme des «untergehenden Westens»), sodann «selektiver Populismus», «Neusprech» und Lüge.

Es sei hier an einen Satz erinnert, den der Wirtschaftswissenschafter Peter Drucker vor mehr als achtzig Jahren formulierte: «Der Faschismus ist das Stadium, das erreicht wird, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat.»

In Bezug auf Putins Faschismus sei hier festgehalten, dass das Regime, das er in Russland seit den nuller Jahren aufgebaut hat, sehr wenig mit dem Nationalsozialismus gemein hat, wie er von Historikern seinerseits mit dem Faschismus in der Sowjetunion in Verbindung gebracht wurde. Putin ist kein Nazi. Selbst er fand heraus, dass die russische Nation nicht durch «Rasse», sondern durch einen «gemeinsamen kulturellen Code» zusammengehalten wird, der umso «wertvoller» ist, als er aus einer «jahrhunderte-», ja sogar «jahrtausendealten» Vermischung der Kulturen hervorgegangen ist. Aus diesem Gedanken, der von der russisch-orthodoxen Kirche gestützt wird, speist sich die Doktrin der «russischen Welt». Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat – versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Grösse des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher massvollen Unterdrückung des politischen Gegners.

Vier Säulen

Die erste Säule des russischen Faschismus ist das Lob des Irredentismus (des Ziels also, möglichst alle Angehörigen eines «Volkes» in einem Staat zu einigen) und der Militarisierung. Beides hat Putin zu einem Kernstück seiner Ideologie gemacht. Die jüngeren Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über die Nazidiktatur übertrafen alles, was in der Sowjetunion stattfand – einige übereifrige Politiker schlugen sogar vor, den noch lebenden Angehörigen der Kriegsopfer ein Wahlrecht bei den nationalen Wahlen zu gewähren.

Der Kult um die gloriose Vergangenheit lieferte den allerbesten Vorwand für die militärische Aufrüstung. Daneben pflegte Putin einen Hass auf den Westen, von dem her er das Ende des Kalten Krieges als Ergebnis einer Verschwörung und eines Verrats interpretierte, die zur Niederlage und zum Untergang der Sowjetunion geführt hatten. Zuletzt behaupteten Putin und seine Getreuen gar, der Westen wolle die Russische Föderation selber demontieren und zerstören. Ebendiese Gefahr wurde als Hauptgrund für einen «präventiven» Angriff auf eine Ukraine angeführt, deren Präsident Selenski nichts weiter sei als eine russophobe Marionette Washingtons.

Die zweite Säule war die fortschreitende Etatisierung der russischen Wirtschaft. Vor einem Jahrhundert hatte Mussolini verkündet: «Der faschistische Staat beansprucht die Herrschaft auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht weniger als auf anderen Gebieten; er entfaltet seine Wirkung in der ganzen Ausdehnung des Landes mithilfe seiner korporativen Institutionen, wobei alle wirtschaftlichen Kräfte der Nation, die in ihren jeweiligen Verbänden organisiert sind, innerhalb des Staates zirkulieren.»

Nach Emilio Gentile ist eines der wichtigsten Merkmale des Faschismus die «korporative Organisation der Wirtschaft, welche die Gewerkschaftsfreiheit unterdrückt, die Sphäre der staatlichen Intervention ausweitet und versucht, durch Technokratie und Solidarität die Zusammenarbeit der ‹produktiven Sektoren› unter der Kontrolle des Regimes zu erwirken – dies, um die gesteckten Machtziele zu erreichen, aber gleichzeitig das Privateigentum und die Klassenunterschiede zu erhalten». Auch die russische Wirtschaft ist unter Putin von Bürokraten beherrscht. Zugleich wird das Wort «Technokrat» verwendet, um die besten Köpfe der Kreml-Administration zu bezeichnen.

Drittens ist Russland unter Putin zum Land der «Vollstreckungsbehörden» geworden. In den letzten Jahren erfolgte eine zunehmende Umstrukturierung der Administration zu dem Zwecke, dem neuen Duce einen absoluten Durchgriff von Macht und Gewalt zu ermöglichen. Zu den Streitkräften, zum Innenministerium und zum Föderalen Sicherheitsdienst kam 2002 der Föderale Wachdienst hinzu. 2007 erweiterte sich der Machtapparat um das Untersuchungskomitee und 2016 um die Nationalgarde. Alle diese Entitäten werden von Putins treuesten Weggefährten geleitet und finden nicht einmal in der aktualisierten Fassung der russischen Verfassung eine Erwähnung. Im Weiteren entstanden in ganz Russland paramilitärische Einheiten – von «Privatarmeen» staatlicher Unternehmen bis hin zu «ethnischen Garden» wie jenen in Kadyrows Tschetschenien (die jetzt in den Aussenbezirken Kiews gegen die ukrainische Armee kämpfen).

Viertens dürfen hier Symbolik und Propaganda nicht unerwähnt bleiben, beides sind für faschistische Regime wesentliche Faktoren. Im heutigen Russland lassen sich sowohl eine «rechtmässige» Kodifizierung der Geschichte als auch der Versuch beobachten, alternative historische Lesarten zu verfolgen. Es gibt eine willkürliche Definition von «Extremismus» und eine willkürliche Einschränkung politischer Aktivitäten. Die wichtigsten Massenmedien unterstehen staatlicher Kontrolle. Deren populistische Rhetorik über eine «nationale Renaissance», über die «Stärke des Landes» und das «Kräftemessen mit dem Feind» hat sich von Jahr zu Jahr verstärkt.

Kurioserweise zeigt das vor Jahren neu entworfene Wappen einer russischen Strafverfolgungsbehörde nichts anderes als ein Bündel jener «fasci», die auf dem Emblem der italienischen faschistischen Partei prangten, nur dass sie jetzt stolz in den Fängen eines doppelköpfigen Adlers liegen. Putins Propaganda ist mit allen Wassern gewaschen und derart wirksam, dass die Russen kein Problem damit haben, wenn der Kreml-Herrscher Charkiw als «russische Stadt» bezeichnet und gleichzeitig die Bombardierungen als «Kampf gegen die Nazis» proklamiert. Im Jahr 2022 sind die durchschnittlichen Russen genauso indoktriniert und unbeleckt von Moral wie die Italiener und Deutschen in den späten dreissiger Jahren.

Der Westen muss sich engagieren

Putins Faschismus wurde Anfang der 2000er Jahre geboren, als er den Untergang des sowjetischen Imperiums zur grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erklärte und die Überführung der sterblichen Überreste des berühmtesten russischen faschistischen Philosophen, Iwan Iljin, vom schweizerischen Zollikon nach Moskau als Staatsakt inszenierte. Er verstärkte sich in den folgenden Jahren durch die Aggression gegen Georgien und die Annexion der Krim.

In all diesen Jahren gab es naive westliche Gelehrte, die Russland als «normales Land» beschrieben und versuchten, dessen «souveräne Demokratie» tiefer und besser zu verstehen. Mittlerweile ist das Thema des russischen Faschismus nicht mehr nur von theoretischem Interesse. Die russischen Faschisten haben sich mittlerweile daran gemacht, die ukrainische Zivilbevölkerung zu kujonieren und wenn nötig zu töten, während der Herr im Kreml vorgibt, dass die ukrainische Armee diese als lebenden Schutzschild benutze, so wie es während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten taten.

Der Krieg in der Ukraine ist mehr als nur ein Konflikt zwischen den Teilen des ehemaligen Imperiums. Er ähnelt dem Vormarsch der faschistischen Brüder im Vorkriegseuropa, wie man ihn von der italienischen und der deutschen Hilfestellung im Spanischen Bürgerkrieg kennt. Um einen neuen Weltkrieg zu verhindern, sollte sich die freiheitliche westliche Welt entschlossen hinter die tapfer kämpfenden Ukrainer stellen. Sie sollte die Schraube der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland, aber auch gegen Weissrussland dermassen stark anziehen, bis beide Regime ins Wanken geraten. Was auf dem Spiel steht, ist nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige und tiefgreifende Entfaschisierung Russlands.

Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.


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Franco Del Principe

Die akademische Analyse inklusive Herleitung überzeugt. Der Faschismus liesse sich durchaus als konstantes Verhaltensmuster in menschlichen Gesellschaften verstehen. Im alten Imperum Romanum leitet sich der Begriff von den königlichen Sicherheitsorganen ab, die dem Herrscher vorausgingen und unliebsame Untertanen wegprügelten. Diese Inspiration nahm sich der Duce zum Vorbild, um aus dem damals nur oberflächlich geeinigten Italien eine stolze Zivilisation mit Anlehnung an einen glorreichen Futurismus zu zimmern. Verwandte Muster der Fasci zeigen sich heute in allerlei Strassengangs, Drogenmilieu, Prostitution, bei Fussballhooligans und selbst latent in den Gedanken der Bevölkerung. Ein weiteres Merkmal ist auch die Überhöhung der eigenen, der überlegenen, weil nicht verkommenen, Identität. Sehr schön. Aber zunächst müssen wir den Krieg in der Ukraine stoppen. Danach treffen wir uns wieder am philosophischen Stammtisch.

Roland Dr. Mock

Putin ist das Produkt der Sowjetunion: gelernter Kommunist, noch dazu Ex-KGB ler. Der Kommunismus ist - wie der Nationalsozialismus oder Mussolinis (originäre) Variante des Faschismus -  eine Form totalitärer Herrschaft. Mit allen ihren Merkmalen, deren wichtiges wohl ist: Menschen sind nicht in erster Linie Menschen (freie, selbstbestimmte Wesen mit Recht auf privates Glück), sondern Verfügungsmasse einer auf absoluten Machtanspruch und der brutalen Unterdrückung von allem, was sich diesem in den Weg stellt, ausgerichteten Ideologie. Insofern ist es müßig, darüber zu philosophieren, ob man Putin nun als  „Faschisten“ bezeichnet. Er ist derselbe, der er vorher war, und dies reicht, zu beurteilen, welche Ziele er hat und mit welchen Methoden er sie durchsetzen wird: denjenigen eines gelernten KGB lers: Desinformation, Trickserei, völlige Abwesenheit jeglicher Moral. Ein kompletter Rückzug aus der Ukraine kommt für ihn nie infrage, und ein Teilrückzug nur im Gegenzug zur Akzeptanz riesiger russischer Geländegewinne.