Russland ist entweder gross oder gar nicht: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien

Der russische Präsident ist nicht wählerisch in seinen Mitteln für die Durchsetzung der Machtpolitik. Noch weniger ist er es, wenn es um die Stichwortgeber seiner Grossmachtphantasien geht.

Ulrich M. Schmid 17 Kommentare
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Wladimir Putin ist ein Machtmensch, dessen Weltbild sich aus vielen obskuren Quellen speist.

Wladimir Putin ist ein Machtmensch, dessen Weltbild sich aus vielen obskuren Quellen speist.

Alexei Druzhinin / AP

Ist Putin verrückt? Die Antwort lautet: nein. Zwar scheint sein eigenmächtiges und verblendetes Vorgehen allen Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes zu widersprechen, gleichzeitig handelt er aber innerhalb seiner grossrussischen Ideologie kohärent und folgerichtig. Putin bewegt sich in einer Denktradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht und in verschiedenen historischen Kontexten einen undemokratischen und wertkonservativen Staat gefeiert hat. Ideengeschichtlich gesehen ist Putin ein Eklektiker. Er nimmt Theorieangebote auf, wo er sie findet, und integriert sie in seine wahnhafte Vision eines grossrussischen Imperiums, das über eine tausendjährige Staatlichkeit verfügt.

Geschichte gehört in Putins Russland nicht zur Vergangenheit, sondern ist Teil der Gegenwart. 2016 wurde in Orjol ein Denkmal für Iwan den Schrecklichen errichtet. Bei der Einweihung bezeichnete der Rektor der Moskauer Staatsuniversität den blutigen Tyrannen als «Symbol der russischen Staatlichkeit», seine Herrschaftszeit werde «mit goldenen Buchstaben in die Geschichte unseres Vaterlandes» eingeschrieben. Die seltsame Wahl für das Denkmal geht auf die Herrschaftsideologie des grausamen Zaren zurück, die auch für das System Putin relevant ist.

Iwan stützte seine Macht auf das Denken des Abtes Joseph Sanin von Wolokolamsk. Joseph anerkannte zwar die Menschennatur des Zaren, die Macht des Monarchen erschien aber aus seiner Sicht göttlich und deshalb unbegrenzt. Sogar Intrigen und Täuschungen waren explizit erlaubt. Putin bewundert Iwan den Schrecklichen für seine Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen die römisch-katholische Kirche und hält Iwans angeblichen Sohnesmord für eine Legende des rachsüchtigen päpstlichen Nuntius.

Die eiserne Hand des Zaren

Der Absolutismus hielt sich in Russland bis zur Abdankung des letzten Zaren Nikolai II. im März 1917. Die Herrscher standen nicht nur über dem Gesetz, sie waren das Gesetz. Die Monarchen waren aufgrund ihres Gottesgnadentums überzeugt, dass sie über dasselbe staatsrechtliche Gewicht wie das ganze Volk verfügten. Als der britische Botschafter Nikolai II. während des Ersten Weltkriegs auf dessen wachsende Unpopularität ansprach, antwortete der Zar vielsagend: «Meinen Sie nun, dass ich das Vertrauen meines Volks zurückgewinnen muss, oder meinen Sie nicht vielmehr, dass mein Volk mein Vertrauen zurückgewinnen muss?»

Allerdings verachtet Putin Nikolai II. als schwachen Herrscher, der für den Zerfall seines Reichs verantwortlich ist. Umso heller strahlt in Putins Augen Nikolais Vater, Alexander III., der Russland mit eiserner Hand regierte. Putin verwendet gerne ein Zitat von Alexander III., um seinen Isolationismus historisch zu begründen: Russland verfüge nur über zwei Verbündete: die Armee und die Flotte.

Auch die von Putin oft behauptete Einzigartigkeit der russischen Zivilisation geht auf einen Denker aus dem 19. Jahrhundert zurück. Nikolai Danilewski identifizierte in seiner Untersuchung «Russland und Europa» zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur «germanisch-romanischen Kultur» der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor, und zwar mit gutem Grund: Es stellt nämlich den Höhepunkt dar, der alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte abschliessen wird.

Zar Alexander III. mit seiner Familie. Der spätere Zar Nikolai II. steht hinter seinem Vater.

Zar Alexander III. mit seiner Familie. Der spätere Zar Nikolai II. steht hinter seinem Vater.

Imago

Mit den Sowjetführern teilt Putin die Illusion der Attraktivität des eigenen Herrschaftssystems. Lenin und Stalin waren überzeugt, dass nach dem Oktober 1917 weitere sozialistische Revolutionen in Europa ausbrechen würden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete man in Moskau die Bruderländer des «Ostblocks» nicht als Besatzungszonen, sondern glaubte an ihre Einsicht in den sozialistischen Fortschritt. Der Kommunismus nahm die Züge einer Erlösungsreligion an. Putin verglich noch im Jahr 2016 die ideologische Programmschrift «Der Kodex des Erbauers des Kommunismus» mit der Bibel und nannte als wichtigste sowjetische Werte die Gleichheit, die Bruderschaft und das allgemeine Glück.

Schädliche Demokratie

Putin macht nicht nur Anleihen bei der Sowjetideologie, sondern auch bei antirevolutionären Denkern aus der russischen Emigration. Eine wichtige Inspirationsquelle ist für ihn der monarchistische Philosoph Iwan Iljin, der nach der Oktoberrevolution zunächst nach Berlin und später nach Zollikon übersiedelte. Iljin entwarf im Jahr 1938 eine Verfassung für ein postsowjetisches Russland. Darin nahm er Putins autoritäre Staatsvorstellungen vorweg.

Eine Demokratie sei schädlich. Russland brauche einen straff gelenkten Staat, dessen Legitimation sich aus der Religion und der Geschichte speise. Ganz dem Zeitgeist entsprechend forderte Iljin, dass «der Staat alle seine Bürger durch eine einheitliche patriotische Solidarität» zusammenbinden solle. Der zukünftige russische Staat müsse durch einen Monarchen zusammengehalten werden. Nicht die Konkurrenz der Parteien, sondern das allgemeine Vertrauen in die Macht sei die Basis der politischen Entscheidungsfindung. Putin zitiert Iljin gelegentlich in seinen Reden. Er sorgte dafür, dass Iljins Gebeine 2005 nach Moskau übergeführt wurden, und war persönlich bei der Beisetzung zugegen.

Der Philosoph Nikolai Berdjajew wurde gemeinsam mit Iwan Iljin 1922 auf einem der sogenannten «Philosophendampfer» aus Sowjetrussland ausgewiesen. Anders als Iljin war Berdjajew in seiner Jugend ein überzeugter Marxist gewesen, der sich später zu einem konservativen Denker wandelte. Auf die Oktoberrevolution reagierte Berdjajew mit einer «Philosophie der Ungleichheit». Seine politischen Vorlieben lagen fortan bei Mussolini und schliesslich sogar Stalin, den er als Verteidiger des russischen Vaterlands verehrte. Putin lobt Berdjajew als Vertreter eines «gesunden Konservatismus», der nicht zukünftige Entwicklungen, sondern den Rückschritt ins Chaos verhindere.

Der dritte Exildenker, auf den sich Putin bezieht, ist Alexander Solschenizyn, der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1970, der das sowjetische Strafsystem in mutigen literarischen Texten angeprangert hatte. Nach seiner Ausweisung wurde er in Europa und den USA zunächst als Dissident gefeiert. Allerdings las Solschenizyn auch bald dem westlichen Publikum die Leviten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er nach Russland zurück. Er empfahl die Vereinigung von Russland, Weissrussland und der Ukraine in einen Staat, der nicht demokratisch, sondern von Philosophenkönigen regiert werden müsse. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte Putin Solschenizyn besucht, er zeichnete ihn im Jahr 2007 sogar mit einem Staatspreis aus. Putin nahm persönlich an Solschenizyns Begräbnis teil und weihte im Jahr 2018 ein Solschenizyn-Denkmal in Moskau ein.

Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn in einer Aufnahme von 1974.

Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn in einer Aufnahme von 1974.

Hulton Archive / Getty

Im postsowjetischen Russland gibt es eine prominente nationalistische Denktradition, deren berüchtigtster Vertreter Alexander Dugin ist. Der Vordenker der eurasischen Bewegung ist überzeugt, dass Russland «entweder gross oder gar nicht» sein werde. Russland müsse sich vom Westen abwenden und zu seiner eurasischen Bestimmung zurückkehren. Das «Russentum» wird bei Dugin zum Mass aller Dinge, dem sich sogar die Ethik unterordnen muss. In einem Aufsatz über Dostojewski behauptet Dugin, dass sogar die russischen Verbrechen unvergleichlich höher stünden als fremde Tugenden. Putin hält sorgfältige Distanz zu Dugin – möglicherweise um sich selbst als gemässigten Vertreter des Eurasismus zu präsentieren.

Insel oder Festung

Der Historiker Wadim Zymburski legte 1993 einen einflussreichen Aufsatz über die «Insel Russland» vor. Er ging davon aus, dass sowohl das Zarenreich als auch das Sowjetimperium Russland von der eigenen geopolitischen Identität entfremdet hätten. Deshalb sei der Zerfall der Sowjetunion eine Chance für Russland, das sich auf seine Grenzen zurückziehen und sich wie eine Insel abschotten müsse. Russland sei von einem Gürtel geopolitisch undefinierter Staaten umgeben.

Alle diese Staaten müssten sich entscheiden, entweder zu Russland oder zum Westen zu gehören. Manche Staaten – wie namentlich die Ukraine – würden bei dieser Wahl aber auseinanderbrechen. Zymburski ging davon aus, dass sich die Krim, das sogenannte «Neurussland» und alle Gebiete östlich des Dnjepr in einem Akt zivilisatorischer Selbstdefinition Russland anschliessen würden. Mit dieser Vision wird Zymburski zu einem Stichwortgeber von Putins aggressiver Ukraine-Politik.

2005 legten die beiden nationalistischen Publizisten Michail Leontjew und Michail Jurjew ihre Konzeption der «Festung Russland» vor. Die grösste Gefahr bestand aus ihrer Sicht darin, dass Russland sich als Staat mit einer eigenen Zivilisation in einer globalisierten Wirtschaftsordnung auflösen könnte. Deshalb forderten sie, dass Russland sich selbst vom Welthandel abschneiden und ein alternatives politisches System zum westlichen Liberalismus entwerfen solle. Die Garanten dieses Szenarios wären laut den Autoren der starke Präsident, die Atomwaffen und die natürlichen Ressourcen des Landes. Putin kann sich bei seiner Vorliebe für eine russische Selbstisolation auf solche ideologischen Entwürfe stützen.

Die Politikwissenschaft muss über die Bücher gehen. Viele der klassischen politikwissenschaftlichen Theorien können Putins aggressives Vorgehen nicht erklären. Seit dem 24. Februar ist klar: Der russische Präsident ist kein kalkulierender Machtmensch, der Risiken und Chancen abwägt. Er ist auch nicht in Institutionen eingebunden, die ihre Interessen formulieren können. Sein Handeln beruht auf ideologischen Überzeugungen. Für das Erreichen seiner Ziele ist ihm kein Preis zu hoch.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen.

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Peter Muff

Was mich immer mehr wundert ist, wie all die gutmeinenden (linken) PolitikerInnen und JournalistInnen und all die sog. Putin Kenner und teilweise -Entschuldiger wie zB Gabriele Krone-Schmalz oder Leo Ensel diese Aspekte des Putinschen Denkens nie gesehen haben, nie sehen wollten.  Die Klagen Putins um die NATO-Osterweiterung und die "Kränkungen" durch den Westen waren immer vorgeschoben, aber allzuviele hier beten das immer noch nach, links und rechts. 

Wolfgang Krug

Es scheint, dass Putin gar nicht so schwer auszurechnen ist. Für ihn hat die Grösse Russlands nichts mit kultureller oder sonstiger Blüte zu tun, sondern allein mit Macht, oder sagen wir ruhig, Gewalt. Seine Geschichte Russlands besteht aus den Phasen, die von skrupellosen Herrschern dominiert waren. In diesem Licht konnte ihm der Zusammenbruch der Sowjetunion nur schweres Leid bereiten. Und diese Demütigung arbeitet bis heute in ihm, sie will er mit allen Mitteln rückgängig machen. Die westlichen Politiker klopften sich derweil an die Brust und fragten: Was haben wir falsch gemacht? Erst als Putins ideologische Krankheit sich jetzt in nackter Gewalt Luft machte, haben sie kapiert, was ihn antreibt und dass man ihm Grenzen setzen muss. Er ist nicht verrückt, aber seine fixe Idee entfernt ihn genau so von jeder Vernunft, wie es Verrücktheit täte.