"Wenn die Ukraine bei dir ist, fühlst du dich sicher" – Seite 1

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DIE ZEIT: Herr Präsident, nach Angaben der ukrainischen Armee bereiten sich russische Streitkräfte aktuell auf den Sturm der Hauptstadt Kiew vor. Sie, den Präsidenten der Ukraine, zu finden und zu töten gilt als wichtiges Ziel. Wie schützen Sie sich?

Wolodymyr Selenskyj: Ich bin bei meinem Volk. Das ist für mich der beste Schutz. Als Russland die Invasion vorbereitet hat, da erwartete Putin nicht, dass die Ukrainer ihr Land so entschlossen verteidigen würden. Nicht nur wenige, sondern die ganze Nation. Der Kreml rechnete nicht damit, dass dieser Krieg ein vaterländischer Krieg für uns sein würde, wie ihn die Sowjetunion gegen Hitler geführt hat. Putins Leute kennen die Ukraine einfach nicht. Aber wir sind so. Wenn die Ukraine bei dir ist, fühlst du dich sicher. Dies ist ein Grundsatz, von dem sich viele im Westen etwas abschauen sollten.

ZEIT: Wieso, glauben Sie, sind Sie Putins Staatsfeind Nummer eins?

Selenskyj: Das ist seine Art, die Realität wahrzunehmen. Seine Leute sehen kein Volk, wenn sie auf den Staat schauen.

ZEIT: Was meinen Sie damit?

Selenskyj: Sie sehen das Staatsoberhaupt, sie sehen Politiker, sie sehen Wirtschaftsbosse. Die Russen hoffen, dass sie alle kaufen oder alle Menschen einschüchtern können. Weil sie aber wissen, dass das bei mir nicht funktionieren wird, drohen sie mir. Das ist einfach zu durchschauen.

ZEIT: Unter welchen Umständen leben Sie derzeit?

Selenskyj: Ich denke, Sie können es erraten: Ich schlafe sehr wenig, trinke extrem viel Kaffee und führe sehr viele Gespräche, Verhandlungen. Ich mache einfach unglaublich viele Dinge, die für die Verteidigung und Rettung meines Volkes notwendig sind.

ZEIT: Wir führen dieses Interview schriftlich. Ihr Pressestab ist nur per WhatsApp zu erreichen und bittet, nicht anzurufen. Man hat offenbar Angst, dass die Russen Sie orten könnten.

Selenskyj: Mein Aufenthaltsort ist die Ukraine, ich bin in Kiew, das ist kein Geheimnis. Das wissen 40 Millionen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.

ZEIT: Die USA haben angeboten, Sie aus Ihrem Land zu bringen. Haben Sie über diese Option nachgedacht?

Selenskyj: Nein. Die Amerikaner haben mich falsch eingeschätzt. Ich bleibe bei meinem Volk.

ZEIT: Viele ukrainische Männer schicken ihre Frauen und Kinder in den Westen. Was ist mit Ihrer Frau und Ihren Kindern?

Selenskyj: Meine Familie ist in der Ukraine. Mehr möchte ich bitte dazu nicht sagen.

ZEIT: Seit einer Woche wird eine bis zu 60 Kilometer lange Kolonne aus gepanzerten Fahrzeugen, Artillerie und Lastwagen beobachtet, die sich von Belarus aus in Richtung Kiew bewegt. Inzwischen weist vieles darauf hin, dass dieser Konvoi zum Stehen gekommen ist und doch erheblich unter ukrainischen Angriffen gelitten hat. Der Konvoi scheint aber auch Verstärkung heranzuführen. Ziel ist es womöglich, die Hauptstadt zu belagern, die Bevölkerung mit Beschuss zu zermürben und die Kapitulation zu erzwingen. Haben Sie Angst vor einer Kesselschlacht?

Selenskyj: Nein, wir haben keine Angst. Wir haben der Welt bereits gezeigt, dass wir uns zu verteidigen wissen. Und wenn Sie mich auf die Angst ansprechen, dann muss ich Ihnen sagen: Nicht wir sollten Angst haben, sondern die Politiker der Welt. Ich meine all diejenigen, die jetzt auf die Ukraine blicken und darüber nachdenken: Könnte es die gleiche Invasion in meinem Land geben? Was Russland nun mit der Ukraine macht, das werden andere Staaten mit ihren Nachbarn wiederholen wollen. Daher ist die Verteidigung der Ukraine und die Hilfe des Westens in Wirklichkeit eine globale Antikriegsaktion. Alle potenziellen Angreifer der Welt sollten wissen, was sie erwartet, wenn sie einen Krieg beginnen.

Freiwillige bereiten am 4. März 2022 im Westen Kiews Molotowcocktails vor. © Raphael Lafargue/​ABACAPRESS/​ddp images

ZEIT: Wie lange kann Kiew einer Belagerung standhalten?

Selenskyj: Die russischen Truppen sollten Kiew in den ersten Kriegstagen einnehmen. Und wo sind sie jetzt? Die Ukraine verteidigt ihre Staatlichkeit. Wir kämpfen dafür, dass ein Staat wie die Ukraine auf der politischen Weltkarte existieren kann. Ein unabhängiger Staat des multinationalen ukrainischen Volkes.

ZEIT: Der Westen unterstützt die Ukraine mit Waffenlieferungen. 22 Länder sind beteiligt, die USA übernehmen die Koordination. Neben den Vereinigten Staaten, die im zurückliegenden Jahr mehr als eine Milliarde Dollar an Militärhilfe für die Ukraine bereitgestellt haben, liefern auch europäische Länder Panzerabwehrraketen, Flugabwehrraketen vom Typ Stinger, Treibstoff, Munition, Sturmgewehre und Feldrationen. Auch Deutschland hat 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen geliefert. Kommt die militärische Unterstützung noch rechtzeitig an?

Selenskyj: Das ist eine gute Frage, die ich gerne noch etwas erweitern würde. Noch vor Monaten, als es noch keinen Krieg gab, sah jeder, dass eine Invasion bevorstand. Russische Truppen standen an unserer Grenze. Und ich habe gesagt: Bitte, sanktionieren Sie Russland, damit Putin nicht einmal an einen Angriff denkt. Das wurde nicht gemacht. Ich sagte: Unterstützen Sie die Ukraine so, dass unsere Sicherheit gewährleistet ist. Das wurde auch nicht getan. Jetzt haben wir eine Invasion. Russische Truppen zerstören unsere Städte und erschießen Flüchtlinge auf den Straßen. Verstehen Sie? Sie töten sogar Flüchtlinge. Ihre Raketen treffen Wohnhäuser, Universitäten und Kirchen. Das ist Barbarei. Und ja, wir bekommen Waffen. Aber es ist offensichtlich, dass wir mehr brauchen, denn die Barbarei hört nicht auf.

Zivilisten fliehen am 8. März aus Irpin, das etwa 30 Kilometer nordwestlich von Kiew liegt. © Wolfgang Schwan/​Anadolu Agency/​Getty Images

ZEIT: Herr Selenskyj, Sie sind Jude. Was haben Sie gedacht, als Präsident Putin angekündigt hat, die Bevölkerung der Donbass-Republiken vor einem Genozid zu bewahren und die Ukraine von der Herrschaft durch angebliche Nazis zu befreien?

Selenskyj: Ich glaube, der russische Präsident kommuniziert selten mit ehrlichen Menschen. Und das, was er von diesen Menschen hört oder was er in den Berichten liest, die ihm gebracht werden, das können wir auch von ihm hören.

ZEIT: Waren Sie trotzdem überrascht, wie weit Putin geht?

Selenskyj: Die Invasion war keine Überraschung für mich. Die Brutalität schon. Das, was russische Soldaten der Zivilbevölkerung antun, ist nicht nachvollziehbar für mich. Weder die Bomben, die sie auf Wohnhäuser werfen, noch die Raketen, mit denen sie Wohngebiete beschießen. Das sind Kriegsverbrechen.

ZEIT: Tausende ukrainische Zivilisten, Männer wie Frauen, ziehen in den Kampf. Sie lassen den Männern gar keine Wahl. Hat es wirklich Sinn, Amateure gegen Berufssoldaten in den Krieg zu schicken?

Selenskyj: Wenn man nicht nur ein Gebiet verteidigen muss, sondern ein ganzes Land, dann macht man das, so gut es irgendwie geht. Wir verfügen nicht über so viele Soldaten wie Russland, wir haben nicht so viel Ausrüstung und so viele Raketen. Aber wir haben etwas, das sie nicht haben: Das sind die Menschen, die ihre Freiheit wirklich schätzen und bereit sind, dafür zu kämpfen. Darum wurde dieser Krieg zu einem Volkskrieg, und darin hat jeder eine bestimmte Funktion. Insbesondere in der Territorialverteidigung.

"Die Drohung mit einem Atomkrieg ist ein Bluff"

ZEIT: Die westlichen Sanktionen sind massiv. Reichen sie aus?

Selenskyj: Wenn die Sanktionen ausreichen würden, hätte die Offensive schon aufgehört. Russisches Öl und Gas werden weiterhin gekauft. Westliche Unternehmen bleiben unter dem Deckmantel verschiedener Ausreden immer noch auf dem russischen Markt. Ja, es gibt Sanktionen, und dafür sind wir dankbar. Aber wir sind einem Angriff ausgesetzt, der an die schlimmsten Zeiten des Zweiten Weltkriegs erinnert. Deshalb müssen die Sanktionen gegen Russland verschärft werden.

ZEIT: Welche Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht noch hilfreich?

Selenskyj: Wenn wir von Sanktionen sprechen, dann müssen die in erster Linie den Export von Öl, Erdölprodukten und Gas unterbinden. Welthäfen müssen für russische Schiffe geschlossen werden. Frachtunternehmen müssen den Versand und Empfang von Waren aus Russland und nach Russland einstellen. Alle Banken sollten aus dem Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden, ohne Ausnahmen wie bislang. Dies sind konkrete Dinge, die getan werden können. Wenn das jetzt nicht geschieht, dann müssen Sie noch mehr tun, um die baltischen Staaten, Polen, Moldawien, Georgien und alle anderen russischen Nachbarn vor einer Invasion zu schützen. Es ist auch sehr wichtig, dass die westlichen Länder endlich entscheiden, wie eine humanitäre Flugverbotszone über der Ukraine eingerichtet werden kann.

ZEIT: Der Westen kann keine Flugverbotszone einrichten, weil dann jedes russische Flugzeug über der Ukraine abgeschossen werden müsste. Das wäre wohl der Beginn des dritten Weltkrieges.

Selenskyj: Man könnte uns auch Kampfflugzeuge und Luftabwehrsysteme geben, mit denen wir selbst unseren Himmel sichern können.

ZEIT: Halten Sie es für realistisch, dass Putin unter dem wirtschaftlichen Druck aufgibt?

Selenskyj: Der Westen hat noch keinen solchen wirtschaftlichen Druck ausgeübt, dass man über die Option sprechen könnte.

Wolodymyr Selenskyj spricht am 1. März an einem geheim gehaltenen Ort in Kiew mit Journalisten. © [M] Umit Bektas/​Reuters

ZEIT: Die Verhandlungen ukrainischer Delegierter mit Russland gehen weiter. Nehmen Sie diese ernst?

Selenskyj: Die Ukraine hat Russland immer Verhandlungen angeboten, letztlich den Frieden. Frieden ist das, was uns am meisten interessiert. Aber um Verhandlungen ernst zu nehmen, müssen wir das Ergebnis sehen. Ich sehe es noch nicht.

ZEIT: Putin droht dem Westen bei einer Einmischung mit einem Atomkrieg. Halten Sie das für möglich?

Selenskyj: Ich denke, die Drohung mit einem Atomkrieg ist ein Bluff. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein. Ein Selbstmörder ist eine andere Sache. Jeder Einsatz von Atomwaffen bedeutet das Ende für alle Beteiligten – nicht nur für die Person, die sie benutzt. Putins Drohung zeigt vielmehr eine Schwäche. Man droht mit Atomwaffen nur dann, wenn alles andere nicht funktioniert. Ich bin sicher, dass Russland sich der katastrophalen Folgen des Versuchs, Atomwaffen einzusetzen, bewusst ist.

ZEIT: Die Ukraine hat 1994 freiwillig ihre Atomwaffen aufgegeben. Im Gegenzug garantierten Russland, Großbritannien und die USA die Souveränität Ihres Landes. War es ein historischer Fehler, dieses Memorandum zu unterzeichnen?

Selenskyj: Der Fehler war, dass die Unterzeichner gegen die Bestimmungen des Budapester Memorandums verstoßen haben. Wenn "Budapest" funktionieren würde, könnte man anderen Ländern, die Atombomben haben wollen, sagen: Hier sind Sicherheitsgarantien, also denken Sie nicht einmal an Atomwaffen. Putins Angriff hingegen ist ein Signal an die ganze Welt: Garantien funktionieren nicht, selbst wenn die Stärksten der Welt sie unterzeichnet haben. Russland selbst garantierte uns Sicherheit. Und jetzt versuchen sie, uns zu zerstören. Wer in aller Welt hofft da noch auf die Macht von Verträgen? Deswegen würde eine strenge Bestrafung Russlands die Wiederherstellung der Kraft des Völkerrechts bedeuten. Der Westen ist dazu in der Lage.

ZEIT: Die Kampfmoral der Russen scheint schlechter zu sein als gedacht. Es heißt, Sie bieten jedem russischen Soldaten, der die Waffe niederlegt, 40.000 Dollar an. Funktioniert das Angebot?

Selenskyj: Ich kann militärische Taktiken nicht offenlegen. Aber so viel kann ich sagen: Wir haben bereits Hunderte von gefangenen russischen Soldaten.

ZEIT: Sie haben die EU-Mitgliedschaft beantragt. Der Chef des Europäischen Rats, Charles Michel, sagte, die EU wolle in den nächsten Tagen über den Antrag beraten. Was versprechen Sie sich von einem solchen Beitritt?

Selenskyj: Die Ukraine ist bereits sehr eng in die Europäische Union integriert. Unser Volk schätzt Freiheit und Demokratie. Durch die Mitgliedschaft der Ukraine wird die Europäische Union eine Nation gewinnen, die hart für Freiheit, Demokratie, Gleichheit kämpft und folglich für Europa. Für die Ukraine ist dies das Ende eines sehr langen Weges zur europäischen Gemeinschaft, zu der wir historisch gehören.

ZEIT: Sie haben vor nur ein paar Jahren ein ganz anderes Leben gelebt, als Schauspieler und Regisseur. Jetzt führen Sie ein Leben, das nur noch aus Verantwortung für Ihr Land besteht. Fragen Sie sich manchmal, was Sie sich da angetan haben?

Selenskyj: Verzeihen Sie, aber das ist eine seltsame Frage. Ich kann einfach nicht anders. Für die Freiheit muss man kämpfen. Immer. Es spielt keine Rolle, wer ich war oder wer ich bin. Du musst frei sein, damit deine Kinder und deine Verwandten frei sind.

ZEIT: Falls Russland die Ukraine einnimmt, was könnte Putin mit Ihrem Land machen?

Selenskyj: Das können Sie ja bereits beobachten: Wer mit Raketen gegen Kindergärten und mit Marschflugkörpern gegen Wohnhäuser vorgeht, der ist zu jeder Schandtat bereit. Dann können sie einfach das Volk vernichten, wie es schon zu anderen Zeiten in anderen Gegenden der Welt versucht wurde. Aber das wird den Russen jetzt nicht gelingen. Die Ukraine und die Welt gemeinsam haben die Macht, die Invasion abzuwehren.

ZEIT: Glauben Sie, dass Putin auch andere Länder wie Moldawien im Visier haben könnte?

Selenskyj: Haben Sie gehört, was in den letzten Jahren in Moskau verkündet wurde? Haben Sie da irgendeinen respektvollen Satz über die Europäische Union wahrgenommen? Haben Sie das Gefühl, dass Putin Europa als gleichberechtigte Macht anerkennt? Nein, er will Europa auseinanderreißen, genau wie die Ukraine. Hören Sie sich doch an, was die russischen Propagandisten sagen. Sie halten sogar Predigten in den Kirchen über die Eroberung anderer Staaten. Moldawien, Georgien, Baltikum. Ich bin sicher, dass auch Polen bedroht ist. Tatsächlich ist der gesamte Kontinent in Gefahr, solange Russland die Möglichkeit hat, einen anderen Staat anzugreifen.