Serie

«Etwas Böses kommt auf uns zu» – ein Kriegstagebuch aus Charkiw (1-5)

Wer kann sich schon vorstellen, dass plötzlich Krieg ist? Auch der Verfasser der nachfolgenden Tagebucheinträge musste erst seinen Unglauben abwerfen, als die ersten Bomben fielen. Ihm war, als würde er aus einem schlechten Traum nicht mehr aufwachen.

Sergei Gerasimow
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Kriegsbeginn, 24. Februar 2024. Schwarzer Rauch steigt über dem Militärflughafen von Chuguyew in der Nähe von Charkiw auf.

Kriegsbeginn, 24. Februar 2024. Schwarzer Rauch steigt über dem Militärflughafen von Chuguyew in der Nähe von Charkiw auf.

Aris Messinis / AFP

Beginn (1)

Es ist 5 Uhr 7 morgens, 24. Februar 2022. Nur wenige Stunden nach dem 23. Februar, der ein umstrittenes Datum ist: Einerseits ist es der Tag der russischen Vaterlandsverteidiger, und die meisten Ukrainer hegen einen tiefen Hass auf die russische Armee. Andererseits feiert der grösste Teil der männlichen Bevölkerung in der Ukraine dieses Datum als Männertag. Ich habe also einen noch nicht ganz fertigen Kuchen im Kühlschrank, und ein vages Gefühl von Festlichkeit wärmt meine Seele. Aber jetzt ist es 5 Uhr 7 morgens, und etwas Unheimliches hat mich geweckt. Etwas Böses kommt auf uns zu.

Das Zimmer ist dunkel und still. Die Welt ausserhalb des Fensters ist es ebenfalls. Es ist eine klare Nacht, wahrscheinlich die erste klare Nacht seit Monaten. Die Venus hängt tief über dem Horizont und wirkt riesig wie ein leuchtendes Ufo. Es ist kein Mond zu sehen. Die Strassenlaternen sind ausgeschaltet. Keine Autos, keine Menschen auf der Strasse, alles scheint so leer, aber irgendwie weiss ich genau, was mich geweckt hat. Tief in meinem Inneren bin ich mir absolut sicher.

Serie: «Kriegstagebuch aus Charkiw»

Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

Mit leisen Schritten, um Lena, meine Frau, nicht zu wecken, nähere ich mich dem Fenster. Das Geräusch wird lauter. In der letzten Minute meines Traums war es das Geräusch von Wellen, die gegen das Ufer schlagen, und ja, es ähnelt tatsächlich ein wenig dem Geräusch von anbrandenden Wellen. Es geht auf und ab, es pulsiert, es atmet. Ich bin mir ganz sicher, dass es das Geräusch des Krieges ist, der gerade begonnen hat.

Das Geräusch ähnelt nichts anderem auf der Welt, denn die Welt besteht aus Lebewesen, aus Dingen, die leben und gedeihen und glücklich sein wollen. Im Gegenteil, dies ist das Geräusch des Todes, des vorsätzlichen Mordes, von Dingen, die töten und zerstören und tot sein wollen, also unterscheidet es sich von allen wirklichen Geräuschen, so wie sich die Dunkelheit vom Licht unterscheidet. Ich habe es noch nie gehört, aber ich weiss, dass es das Atmen des nahenden Krieges ist.

Es besteht aus einfachen Klängen wie «Bum!» und «Bang!» und einem langen «Schhh . . .», die sich immer wieder wiederholen, verzerrt durch die Entfernung, verschmolzen zu etwas anderem, Einzigartigem und Einheitlichem. Und doch ist die Welt leer und irgendwie heiter.

Ich lebe in der Stadt Charkiw, in der 1932 ein Lithiumatom in zwei Alphateilchen gespalten wurde, zum ersten Mal in der damaligen Sowjetunion, nur wenige Monate nachdem dies als weltweit Ersten J. D. Cockroft und E. T. S. Walton im Cavendish Laboratorium gelungen war. Nobelpreisträger in Medizin, Physik und Wirtschaft haben in meiner Stadt studiert und gearbeitet. Ich lebe im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das kann mir doch nicht passieren, denke ich.

Dann sehe ich das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen. Jetzt kann ich es glauben: Es kann mir passieren. Es kann jeden treffen. Es kann dem ganzen Land passieren, Europa, der ganzen Welt, der ganzen Geschichte.

Ich stosse meine Frau leicht an.

«Steh schnell auf», sage ich. «Der Krieg hat begonnen.»

Ein paar Stunden später sehe ich eine Frau, die in der Nähe wohnt. Meine Wohnung liegt im dritten Stock, ihre aber im zwölften, so dass sie alles viel besser sieht als ich.

«Kannst du es glauben?», fragt sie mich immer wieder. «Kannst du es glauben?»

«Ja», sage ich. «Warum nicht?»

«Weil es unmöglich ist», sagt sie ein wenig hysterisch. «Ich konnte es nicht einmal glauben, als ich das Feuerpanorama am ganzen Horizont sah. Ich habe so viel Rauch gesehen. Ich kann es auch jetzt nicht glauben. Wie konntest du es nur glauben?»

«Es war vom ersten Moment an klar», sage ich, aber tief im Inneren glaube ich es immer noch nicht, denn ich habe überhaupt keine Angst. Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze und lächeln dabei. Die Leute glauben halb, dass sie noch nicht aus einem schlechten Traum aufgewacht sind, weil nichts, was sie gerade sehen oder hören, real sein kann.

Wasser (2)

Es ist 5 Uhr 30 morgens, 24. Februar 2022. Es gibt kein Wasser in den Leitungen, und die Zentralheizung funktioniert nicht. Ich schalte den Computer ein und suche nach den neuesten Nachrichten. Keine Nachrichten. Ich meine, keine echten Nachrichten, nur alltäglicher Informationsmüll. Aber der Kanonenlärm ist zu laut, als dass man ihn ignorieren könnte. Endlich, um 5 Uhr 50, lesen wir, was wir bereits wissen: Russland hat einen Krieg begonnen.

«Es gibt kein Wasser mehr», sagt meine Frau.

Also gehe ich los, um an einem Automaten Wasser zu kaufen. O nein! Die Schlange derjenigen, die dasselbe wollen, ist zwanzig Meter lang. Es wird Stunden dauern, bis ich etwas Wasser bekomme.

Die Knallgeräusche sind jetzt lauter, wahrscheinlich, weil ich draussen bin. Ich höre klare, schnappende Geräusche, so, als ob riesige Seifenblasen am Himmel über den Köpfen der Menschen zerplatzen, aber diese Geräusche sind natürlich millionenfach lauter. Die meisten Leute, die in der Schlange stehen, telefonieren mit ihren Handys. Dann bricht die Verbindung ab, und sie können nicht mehr telefonieren, aber irgendwie lesen sie Nachrichten und Textnachrichten. Manche sagen, ihr mobiles Internet sei ausgeschaltet.

Die Leute unterhalten sich leise. Sie lächeln, sie erzählen Witze. Die lauten Seifenblasen zerplatzen immer wieder am Himmel, aber niemand scheint sie zu beachten, niemanden scheint es zu interessieren. Jeder hält grosse Plastikwasserflaschen in der Hand, eine Menge Plastikflaschen. Ganz schön viele. Vor mir in der Schlange am Wasserautomaten drängeln sich etwa vierzig Leute. Ständig kommen neue Leute hinzu. Jeder hat drei oder vier grosse Plastikflaschen dabei. Keiner sieht wirklich besorgt oder verängstigt aus.

Ich muss immer wieder an den fernen Feuerschein denken, der frühmorgens den Himmel erhellte. So etwas habe ich schon einmal gesehen. Vor sehr langer Zeit, als ich ein Junge oder ein sehr junger Mann war, wurde ich Zeuge des Bruchs einer Hochdruck-Gasleitung, und dieses Erlebnis hat sich in mein Gedächtnis, in mein Bewusstsein und in mein Unterbewusstsein, in alles eingeprägt.

Es war um Mitternacht herum, als die Leitung brach. Ich wachte von einem lauten Geräusch auf, das sich anhörte, als ob ein Zug an meinen Fenstern vorbeiratterte. Ich befand mich damals in einem Dorf in der Region Kursk. Es war ein sehr dunkles Dorf. Die nächste Strassenlaterne war sieben Meilen entfernt. Aber in diesem Moment wurde alles von einem starken, roten Fotolabor-Licht erhellt. «Okay, das ist eine Atomexplosion», dachte ich damals. Das war mein erster Gedanke. Ich geriet nicht in Panik, weil das ohnehin keinen Sinn ergab. Es ist leicht, in Panik zu geraten, wenn man das Gefühl hat, dass man etwas tun kann, und gleichzeitig das Gefühl, dass man nichts tun kann, und dieser unmögliche Widerspruch macht einen verrückt. Aber man gerät nicht in Panik, wenn es überhaupt nichts zu tun gibt.

In jener Nacht ging ich auf die Strasse und beobachtete einen feurigen halben Globus, der über einem fernen Feld zitterte. Er bewegte sich, er lebte. Es sah aus, als würde er auf mich zurollen. Dann spürte ich so etwas wie Regen, der meine Schultern streichelte. Dieser Regen war heiss. Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die Blätter einer alten Weide in der Nähe des Hauses gelb und geschrumpft waren. Der heisse Regen aus geschmolzener Erde hatte sie verbrannt. Aber am Morgen war das Feuer bereits gelöscht.

Eine Hochdruck-Gasleitung verlief quer durch ein Kartoffelfeld. Nun waren alle Kartoffelspitzen verbrannt. Eine knisternde glasige Kruste aus geschmolzenem Boden bedeckte die Oberfläche dieses Gemüse-Krematoriums. Als ich einen Schritt darauf machte, fiel mein Fuss durch die Kruste hindurch. Die Kartoffeln darunter waren gebacken. Kinder gruben sie tagelang aus.

Zwei oder drei laute Seifenblasen zerplatzen am Himmel und zerstieben die Erinnerungen. Sie sind so nah; es erscheint seltsam, dass kein tödliches Zeug auf unsere Köpfe regnet. Aber die Menschen sehen nicht besorgt aus: Manche grosse schreckliche Dinge sind so gross und schrecklich, dass wir keine angemessene emotionale Reaktion darauf haben.

Der Wasservorrat im Wasserautomaten ist zu Ende. Ich muss etwas dagegen tun. Es gibt einige, die sagen, es dauere ein paar Tage, bis man verdurste.

«Im schlimmsten Fall», meint jemand, «müssen wir Wasser aus den Pfützen trinken.» Das klingt lustig. Manche Leute lächeln.

Essen (3)

Es ist 6 Uhr 30 morgens, 24. Februar 2022. Der nächstgelegene Supermarkt ist geöffnet. Ich trete ein. Drinnen sieht alles normal aus. Ich kaufe ein paar Päckchen Katzenfutter, ein paar Rollen Toilettenpapier und gehe zu dem Gang, in dem Dosenfutter verkauft wird. Ich kaufe zehn Dosen Sardinen in Öl. Der Gang, in dem Wasser verkauft werden sollte, ist leer, aber zu meinem Glück bringt mir ein uniformierter Angestellter zwei 5-Liter-Flaschen. Ich nehme sie schnell mit. Jetzt kann ich an der Kasse bezahlen und nach Hause gehen, denke ich.

Tatsächlich schlängelt sich die Schlange zur Kasse durch alle Gänge, und es scheint, als könnte sie bis hinter den Mond reichen, wenn sie gerade wäre. Nicht ohne Schwierigkeiten finde ich ihr Ende. Die Schlange bewegt sich in Schüben: Ich bleibe etwa eine Viertelstunde stehen, dann sprinte ich vorwärts, so schnell wie ein Regenwurm. Aus den Lautsprechern dröhnt fröhliche Musik, die seit gestern nicht mehr geändert wurde. Es ist besonders lustig, einige der gestrigen Durchsagen zu hören wie z. B. «Liebe Kunden, aufgrund der Covid-19-Beschränkungen dürfen sich nicht mehr als 20 Personen gleichzeitig im Markt aufhalten.» Wen interessiert schon Covid-19? Was ist Covid-19 überhaupt?

Langsam gehe ich weiter und beobachte, wie sich die Lebensmittelregale leeren. Die Leute räumen alle Konserven weg. Einige naive Omas drängen sich gegen den langsamen, aber stetigen Strom von Menschen, ziehen ihre Einkaufswagen hinter sich her, nur um vor den Brotregalen stehen zu bleiben, ihre Augen so weit aufzureissen wie ein Mädchen, das auf seinen ersten Kuss wartet, und zu fragen: «Gibt es noch Brot?» Die Antwort ist eindeutig: «Nein.»

Als ich an dem grossen Fenster vorbeistapfe, sehe ich die Schlange vor dem Wasserautomaten. Erstaunlicherweise ist sie jetzt noch länger. Dann schlängelt sich eine grelle Blondine in engen Jeans vorbei. Alle Männer (es sind hauptsächlich Männer in der Schlange) drehen ihre Köpfe, um ihr mit ihren Blicken zu folgen. Aber sie schauen nicht auf ihren wunderschönen Hintern, sondern auf die 5-Liter-Wasserflasche in ihrer Hand.

Ein Mann, der wie ein Betrunkener aussieht, drängt sich an mir vorbei zum Spirituosenregal.

«He, seht euch das an!», sagt er. «Keiner greift zum Wodka!»

Tatsächlich tun es einige Leute. Sie schnappen sich drei oder vier oder fünf oder so viele Flaschen, wie sie halten können, und ich weise den Mann darauf hin. Er nickt, schnappt sich drei oder vier oder fünf oder so viele Flaschen, wie er tragen kann, und verschwindet. Etwa zwei Stunden später, als ich schon in der Nähe der Kasse bin, taucht er wieder auf, schon betrunken, und fängt an, Obszönitäten zu schreien, die er an Putin persönlich richtet. Er ist herrlich phantasievoll. Er ist ein Poet der Obszönitäten. Leider schreit er sie auf Russisch, und sie sind so unübersetzbar und unverwandelbar in einfaches Englisch wie ein Orkan oder eine Lawine. Die meisten Leute in der Schlange nicken zustimmend. Tatsache ist, dass achtzig Prozent der Ukrainer Putin hassen, aber nicht viele von ihnen sind so wortgewandt. Jedenfalls nicht ohne eine Flasche Wodka.

Dann taucht meine Frau im Supermarkt auf und sagt, dass sie im Haus bereits kaltes Wasser aufgedreht hätten. Das Leitungswasser ist praktisch ungeniessbar, aber besser als Wasser aus Pfützen. Sie teilt mir mit, dass das Internet funktioniere. Sie macht im Supermarkt die Runde und kauft ein paar Kleinigkeiten, die noch zu haben sind.

Morgen werden die Regale leer sein. Übrigens, einige Leute, die ich kenne, haben mir später erzählt, dass sie in den ersten beiden Kriegstagen gar nichts gegessen haben, weil sie nicht an Essen denken konnten.

Petschenihi-See (4)

24. Februar 2022, der erste Tag des Krieges. Es ist Nachmittag. Die Bombardierung der Stadt ist lauter geworden. Die Menschen haben die Fenster zugeklebt, damit keine Glassplitter in die Zimmer fliegen. Alle Vorhänge sind zugezogen. Viele gehen in den Keller, wo behelfsmässige Bunker eingerichtet wurden. Wir nicht. Wir sind sozusagen an unsere Katzen gefesselt.

Wenn Sie glauben, dass es eine leichte Aufgabe sei, fünf lebhafte Katzen, die sich vor Ihnen in verschiedenen Ecken des Hauses verstecken wollen, zu fangen, sie in Rucksäcke zu packen und sie dann zusammen mit anderen notwendigen Dingen (Wasser, Kleidung, Essen usw.) in den Keller zu schleppen, der bereits mit Menschen vollgestopft ist, dann liegen Sie falsch. Eindeutig falsch. Denn die Katzen schreien und kämpfen. Es sind schliesslich Katzen, und sie haben das Recht, zu schreien und zu kämpfen, wenn jemand ihre Freiheit und Würde verletzt.

Die Menschen im Luftschutzkeller, die den Raum nicht mit schreienden und kämpfenden Katzen teilen wollen, haben ebenfalls das Recht, zu schreien und zu kämpfen. Also sitzen wir in dem engen Raum zwischen den Zimmern, gleich weit von allen Fenstern entfernt, und entscheiden, ob wir in den Luftschutzkeller gehen sollen oder nicht. Wir haben einen Laptop, und das Internet ist noch eingeschaltet. In einem Moment erfahren wir, dass der Damm des Petschenihi-Sees gesprengt worden ist.

Der Petschenihi-See, auch Petschenihi-Reservoir oder sogar Petschenihi-Meer genannt, versorgt Charkiw mit frischem Trinkwasser. Er ist natürlich zu klein, um wirklich ein Meer genannt zu werden, er ist nur fünfundsiebzig Kilometer lang. Aber es ist eine Schande, dass der Damm, der das Wasser hält, zerstört ist.

Ich erinnere mich gut an diesen Damm. Vor drei Jahren waren meine Frau und ich dort wandern und hielten kurz auf der Brücke an, um den Wasserfall zu bewundern. Damals wurden wir aufgehalten, weil einige Idioten, die den Damm bewachten, uns für Saboteure hielten.

«Seid ihr nun Saboteure oder nicht?», fragten sie uns stirnrunzelnd.

«Natürlich nicht», sagten wir.

«Dann verschwindet von hier. Wenn wir euch hier noch einmal sehen, werdet ihr für achtundvierzig Stunden verhaftet», sagten sie und liessen uns gehen. Das waren wirklich sehr leichtgläubige Sicherheitsbeamte, oder vielleicht war ihnen auch nur todlangweilig. Sie hatten seit dreissig Jahren keine echten Saboteure mehr gesehen, also hielten sie jeden an, der zufällig den Damm überquerte, und fragten ihn, ob er ein Saboteur sei oder nicht. Das war schon sehr schlampig.

Wir verabschiedeten uns von ihnen und gingen in den schwarzen Wald, das heisst in den Wald am Westufer des Sees. Der Wald heisst schwarz, weil es dort kein Sonnenlicht gibt. Kein Sonnenlicht, keine Sandstrände, keine Menschen, die sich dort sonnen. Wir waren an diesem herrlichen Ort so allein, als wären wir die letzten Menschen auf dem Planeten. Wir gingen ins seichte Wasser. Es war wirklich seicht, und so liefen wir weiter und weiter, bis wir einige hundert Meter vom Ufer entfernt im Schlamm stecken blieben. Und dann hörten wir etwas Schreckliches hinter unserem Rücken.

Es war ein Düsenjäger, eine MiG oder eine SU. Der Petschenihi-See liegt zwischen zwei ruhigen, bewaldeten Hängen, und der Düsenjäger glitt den Hang hinunter und hielt sich dabei so niedrig, dass es schien, als hätte er die Baumwipfel streifen können. Dann stürzte er sich auf uns, wobei er sehr niedrig über dem Wasser blieb. Er flog knapp über unsere Köpfe hinweg, um dann in den Himmel aufzusteigen, wo er alle denkbaren und undenkbaren Kunstflugmanöver vorführte. Der Pilot übte und spielte gleichzeitig mit uns, und nein, er war nicht schlampig. In diesem Moment wurde mir klar, dass kein Feind jemals eine Chance haben würde, die Ukraine zu besiegen.

Nicht wegen der Düsenjäger, sondern wegen der Menschen.

Menschen (5)

Die Menschen in der Ukraine sind wirklich einzigartig. Ich sage das nicht, weil ich ein Patriot bin. In Zeiten wie diesen werden sogar Steine patriotisch. Sogar der Himmel wünscht sich, die Köpfe der Invasoren zu zertreten. Und auch die Wolken würden sich gerne in Giftgas verwandeln und sie ersticken. Ich bin nicht patriotischer als die Steine, der Himmel oder die Wolken, aber auch nicht weniger patriotisch. Die Ukrainer sind einzigartig, denn sie sind wahrscheinlich das idealistischste und freiheitsliebendste Volk der Welt.

Man nehme meinen Nachbarn als Beispiel. Er ist schon über sechzig und nicht mehr ganz fit. Eines Tages wurde er auf einer Treppe von einem jungen, kräftigen Idioten hart gestossen. Der Nachbar ging nach Hause und holte, ich weiss nicht mehr genau was, wahrscheinlich einen Hammer. Er wollte den Mann umbringen. Es war nicht leicht, ihn aufzuhalten.

«Du wirst für den Rest deines Lebens im Gefängnis verrotten, wenn du das tust», sagte ich zu ihm.

«Na und?», sagte er. «Das ist mir egal. Es ist mir völlig egal.» Und es war ihm wirklich egal.

Man könnte meinen, mein Nachbar sei ein asozialer Mensch, ein Psychopath oder einfach nur ein Vollidiot. Weit gefehlt. Er ist ein Künstler, ein Maler, der sein ganzes Leben dem Malen von Bildern gewidmet hat, die er nie zu verkaufen versucht hat. Manchmal verschenkt er sie. Er ist eine Art van Gogh, der sich noch kein Ohr abgeschnitten hat. Er würde es leicht tun, wenn er das Gefühl hätte, dass es für seine Kunst notwendig wäre.

Wenn es im Frühjahr warm wird, lässt er sich einen Bart wachsen, nimmt ein kleines, aufblasbares Gummiboot, das ich ihm vor vielen Jahren geschenkt habe, und verlässt die Stadt für drei oder vier Monate zum Fischen. Er baut ein Zelt am Ufer eines Sees auf, malt dort unter freiem Himmel seine Bilder und angelt im See. Er fängt eine Menge guter Fische, die er an andere Leute verkaufen könnte, die sich am See erholen, aber er verschenkt einfach jeden Fisch. Er schenkt den Leuten auch seine Bilder. Wenn die Leute ihn bitten, ihr Porträt zu malen, malt er etwas anderes. Und wenn sie ihn bitten, etwas anderes zu malen, malt er ihr Porträt. Er ist so frei wie ein Vogel. Die Leute nennen ihn einen Muslim, weil er einen Bart trägt und sonnengebräunt ist.

Eines Tages besuchte ich ihn in seinem improvisierten Lager am See.

«Willst du, dass ich etwas aus der Natur male?», fragte er mich.

«Ja», sagte ich, und er begann zu malen. Zuerst konnte ich nicht verstehen, was ich auf seinem Bild sah. Er schaute auf den hellblauen See, die grünen Büsche und die blendende Sonne, aber er benutzte nur schwarze und graue Farbtöne, vielleicht mit ein bisschen Rot. Dann sah ich, dass er in Wirklichkeit einen Winterwald und ein Rotkehlchen malte, das auf einem gefrorenen, mit Frost überzogenen Ast sass.

Solche Leute kann man nicht besiegen. Eines Tages näherten sich ein paar Schläger seinem Zelt und befahlen ihm, sich zu verziehen, da ihnen dieser Ort ihrer Meinung nach gehörte. Er nahm eine Axt in die Hand und sagte: «Warum versucht ihr nicht, mich zum Gehen zu bewegen?»

Und als die Schläger ihm in die Augen sahen, wurde ihnen klar, dass sie ihn niemals hätten zum Gehen bringen können. Also verschwanden sie selber.

Das ist der Grund, warum achtzig Prozent von uns Putin hassen und verachten. Nicht, weil er ein Mörder ist. Es ist einfach mathematisch erwiesen, dass in den über zwanzig Jahren seiner Herrschaft keiner von Putins Feinden und Gegnern eines natürlichen Todes gestorben ist. Das ist eine einfache und leicht überprüfbare Tatsache. Und nicht, weil er einen Teil des ukrainischen Territoriums gestohlen hat, sondern vor allem, weil er ein bulliger Schläger ist, der mit einem dreckigen Grinsen auf dich zukommt und dir Befehle gibt, was du tun oder lassen sollst. Das können wir Ukrainer nicht ausstehen.

Wenn jemand versucht, sie ihres Rechts zu berauben, einen Winterwald zu malen, wenn sie auf einen Sommersee schauen, nehmen sie eine Axt in die Hand. Und es ist ihnen egal, ob sie dafür geschlagen werden oder nicht, ob sie dafür ins Gefängnis kommen oder nicht, ob sie getötet werden oder nicht. Sie kämpfen für ihr Recht, frei zu sein, egal was passiert. Putin wird das nie verstehen, er ist zu einfältig. Um das zu verstehen, sollte man ein bisschen van Gogh in der Seele haben.

Was ist mit den anderen zwanzig Prozent, denen es nichts ausmacht, Putin um sich zu haben? Ein Teil von ihnen ist vom russischen Fernsehen vergiftet, das so tödlich ist wie konzentrierte Abgase. Der andere Teil spricht Russisch und hegt einen Groll gegen die ukrainische Regierung, weil sie ihnen nicht erlaubt, ihre eigene Sprache und Kultur wirklich zu lieben. Die ukrainische Regierung hat nicht immer recht, aber sie ist eine Million Mal besser als jeder Putin.

Am 24. Februar tat der ukrainische Marineinfanterist Witali Skakun das Idealistischste und Freiheitsliebendste auf der Welt: Er sprengte die Henitschesk-Brücke und mit ihr sich selbst in die Luft, um die Russen aufzuhalten.

Frag nicht, für wen die Glocke läutet; sie läutet für dich.

Zur Person

Sergei Gerasimow – Psychologe und Romancier
PD

Sergei Gerasimow – Psychologe und Romancier

Sergei Wladimirowitsch Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er ist Bürger der Ukraine. In den frühen neunziger Jahren studierte er in seiner Heimatstadt Psychologie und verfasste später ein Psychologie-Lehrbuch für Schulen sowie ein Buch über Psychologie in Beziehungen. Er ist Autor mehrerer wissenschaftlicher Artikel über kognitive Aktivitäten. Daneben ist er Romancier und übersetzt Gedichte. Einer seiner Schwerpunkte ist Science-Fiction. Seine Bücher konnten lange auch in den grössten Buchverlagen Russlands wie AST und Exmo erscheinen. Die auf Englisch verfassten Geschichten und Gedichte wurden in zahlreichen englischsprachigen Journalen abgedruckt. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Von dort aus sendet er seine «Notizen aus dem Krieg», solange es die Internetverbindung zulässt.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein

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