Ukraine-Krieg: Eines Tages wird man Putin den Prozess machen. Das Gericht führt schon Protokoll

Während die Flüchtlinge nach Westen strömen und der Krieg immer mehr Opfer fordert, sitzt der russische Präsident unbehelligt im Kreml. Dereinst aber wird er vor einem Kriegsverbrechertribunal stehen.

Ljudmila Ulitzkaja
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Eine aus der Ukraine geflüchtete junge Frau mit ihrem Kind wartet in Krakau auf den Weitertransport.

Eine aus der Ukraine geflüchtete junge Frau mit ihrem Kind wartet in Krakau auf den Weitertransport.

Jakub Gruca / Imago

Die Geschichte bietet immer wieder interessante Parallelen. Vergleicht man bestimmte Vorgänge in Russland in den Jahren 1922 und 2022, drängt sich eine solche Parallele auf. 1922, ein paar Jahre nach der Revolution, verliessen mehrere Schiffe die Häfen Sowjetrusslands und brachten Wissenschafter, Politiker und Schriftsteller ins Ausland – die kulturelle Elite des Landes, die zur Emigration gezwungen war. Für diese Menschen war die Emigration der einzige Ausweg, denn zu der Zeit hatte die bolschewistische Regierung bereits eine Vielzahl von Adligen, Gelehrten, Priestern und Intellektuellen umgebracht. Sie alle waren hochgebildet und erkannten die neue, proletarische Macht nicht an. Berühmt wurde diese Ausweisungsaktion später als «Philosophendampfer».

Heute, hundert Jahre später, beobachten wir etwas Ähnliches. In den letzten Jahren hat schon ein relativ grosser Teil der russischen kulturellen Elite das Land verlassen. Doch nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine, den die russische Regierung verharmlosend als «militärische Operation» bezeichnet, hat sich diese Bewegung verändert und verstärkt.

Auf verschlungenen Wegen nach Berlin

Am Morgen des 11. März fuhr ich mit einem Petersburger Freund, einem Journalisten, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, zum Zentralen Omnibusbahnhof Berlin, um Flüchtlinge aus der Ukraine zu empfangen. Die Busse, die dort ankamen, waren anders als die «Philosophendampfer» von 1922. Die Personen, die dort ausstiegen, waren von der Reise erschöpfte Frauen und Kinder. Keine Männer, weder alte noch junge. Die alten wollen ihr Zuhause und ihren Besitz meist nicht verlassen, die jungen kämpfen. Die Frauen fliehen mit ihren Kindern vor dem Krieg – weil ihr Haus zerbombt wurde oder weil sie es in den Luftschutzräumen nicht mehr aushalten. Eine Frau aus Donezk, mit der wir ins Gespräch kamen, war zu Besuch bei ihren Eltern in Cherson gewesen und wurde dort vom Krieg überrascht. Sie stieg in einen Bus und gelangte über eine verschlungene Route durch halb Osteuropa nach Berlin.

Die Berliner zeigten grosse Hilfsbereitschaft. Während die staatlichen Instanzen noch keine Unterkünfte organisiert hatten, nahmen private Helfer aus Berlin und anderen Städten ukrainische Frauen und Kinder bei sich auf.

Neben dem Busbahnhof gab es einen provisorischen Sammelpunkt, an dem Freiwillige Verpflegung und Kleidung austeilten. Studenten, die bereits die ganze Nacht auf dem Busbahnhof verbracht hatten, blieben weiter dort, weil sie die verwirrten und erschöpften Menschen nicht sich selbst überlassen wollten. Imbissläden spendeten Essen, Apotheken des Viertels verschenkten Medikamente. Von Mitarbeitern staatlicher Stellen wurden kostenlose SIM-Karten verteilt, mit denen innerhalb Deutschlands und in die Ukraine telefoniert werden kann, Studenten halfen bei der Installation.

Der Flüchtlingsstrom kam ebenso unerwartet wie der von der Kreml-Regierung improvisierte Krieg. Inzwischen organisiert das Land Berlin zusätzliche Unterkünfte in den ehemaligen Flughäfen Tempelhof und Tegel und in den Messehallen am Funkturm. Ausserdem werden Busse bereitgestellt, die Ukrainerinnen und Ukrainer in andere Bundesländer bringen, die Benutzung der Deutschen Bahn und des öffentlichen Nahverkehrs ist für sie ebenfalls kostenlos. Und vor allem erhalten sie eine kostenlose medizinische Versorgung, was für die erschöpften und traumatisierten Menschen besonders wichtig ist.

In welchem Bunker sitzt dieser Mann?

Die Zahl der Todesopfer dieses Kriegs ist noch unbekannt. Sie schwankt zwischen der offiziellen Angabe von 498 und der inoffiziellen von rund 12 000.

Wo ist dieser Wahnsinnige, auf dessen Befehl russische Truppen die ukrainische Grenze überschritten haben, friedliche Städte beschiessen und bombardieren und Tausende Einwohner in Luftschutzräume treiben?

In welchem komfortablen Bunker sitzt dieser Mann? Was kocht ihm sein berühmter Koch zum Abendessen?

Wo ist seine Familie, wo sind seine Kinder, über die das Volk nichts weiss? Auch das ist ein Staatsgeheimnis.

In vielen Jahren werden unsere Nachkommen in Büchern Beschreibungen dieser Tage lesen und darin Antworten auf alle diese Fragen finden.

Doch schon heute, da die ganze Welt noch unter Schock steht, wissen wir eines mit Sicherheit: Eines Tages wird man diesen Mann vor Gericht stellen. Der Prozess gegen ihn wird in die Geschichte eingehen wie die Nürnberger Prozesse und das Kriegsverbrechertribunal von Den Haag. Ob er noch zu Lebzeiten des Verbrechers stattfinden wird oder erst nach seinem Tod, das wissen wir nicht.

Doch der Prozess ist ihm gewiss! Das Gericht steht bereit, es führt schon Protokoll und erwartet ihn. Fast möchte ich sagen: das Jüngste Gericht!

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und gehört zu den bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur. Sie ist vorige Woche mit ihrem Ehemann über Israel nach Berlin ausgereist. Im Februar ist ihr Erzählband «Alissa kauft ihren Tod» bei Hanser erschienen. – Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.

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