Serbien würde sich wohl am liebsten mit Mütterchen Russland vereinen, wenn nicht Rumänien dazwischenläge – und jetzt stört auch noch diese Ukraine!

Serben und Russen verbindet nicht nur die gemeinsame orthodoxe Religion. Beide Völker leben bis heute von einem Grossmachtkomplex, dem die Gegenwart freilich längst entglitten ist, was man nicht anerkennen will. So teilt man denn auch die gemeinsame Kränkung.

Bora Ćosić
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1948, im Konflikt Titos mit Stalin, ähnelte alles den Verhältnissen, wie sie bis vor kurzem an der ukrainischen Grenze herrschten. Aufnahme um 1950.

1948, im Konflikt Titos mit Stalin, ähnelte alles den Verhältnissen, wie sie bis vor kurzem an der ukrainischen Grenze herrschten. Aufnahme um 1950.

Popperfoto / Getty

In Serbien gibt es ungeachtet vieler schlechter Erfahrungen ein grosses Mitgefühl für Russland und seine Menschen. Im 19. Jahrhundert, als sich das serbische Volk gegen die türkischen Besatzer erhob, wurde man in Moskau vorstellig und bat um Waffenhilfe, man bekam sie nicht, dabei war unser erster Botschafter ein Pope, Mateja Nenadović. Dies wiederholte sich im Zweiten Weltkrieg, als die aufständischen Partisanen nächtelang in den kahlen Bergen auf Hilfe ähnlicher Art warteten, aber die Flugzeuge, die russischen, waren nicht da. Solche Episoden waren nach dem gemeinsamen Sieg über den Faschismus vergessen, doch bereits 1948, im Tito-Stalin-Konflikt, ähnelte alles den Verhältnissen, wie sie bis vor kurzem an der ukrainischen Grenze herrschten. Es ist ein wahres Wunder, dass es damals nicht zu einer Besetzung Jugoslawiens kam.

Trotz allem lieben die Serben die Russen, man weiss nicht, warum. Sie unterscheiden nicht einmal zwischen den sowjetischen Soldaten, die, als sie Belgrad 1944 befreiten, dessen Bewohnern gerne die Uhren vom Handgelenk nahmen, und den Flüchtlingen, die 1918 vor der Revolution Lenins geflohen waren. Als wären die «Weissen» und die «Roten» für die Serben dasselbe, wenn es nur Russen sind!

Russe sein, eine Berufung

Mehrere Generationen wurden bei uns in der Tradition Eisensteins und Majakowskis erzogen, und Wrangel, der General des Zaren, liegt immerhin auf einem Belgrader Friedhof begraben. In meiner Kindheit zwischen den Weltkriegen bevölkerten emigrierte russische Ballerinen, geflüchtete Theaterregisseure, Maler, Ingenieure und Meister der Typografie die Stadt, und meine Mutter verkehrte mit den zugewanderten Damen, die uns beibrachten, wie man Tee aus Untertassen trinkt und wie unsere Zimmer sanft, russisch, beleuchtet werden können, mithilfe eines Lampenschirms.

Was wussten diese seltsamen Menschen nicht alles, deren Sprache unserer glich, nur milder und weicher war, mit viel Lallen. Und mir selbst kam es in meiner frühen Jugend so vor, als wäre Russe zu sein gleichbedeutend mit einem bestimmten Beruf, einem Gewerbe. Der russische Geist drang durch die Empfindsamkeit einer grossen Literatur ebenso wie durch die Kaffeehaus-Serenaden einer russischen Dame, Olga Jančevecka. Ich bin nicht sicher, ob dabei unsere gemeinsame Religion, die orthodoxe, eine entscheidende Rolle spielte. Weil die Serben im Glauben eigentlich nicht so borniert waren wie ihre katholischen Nachbarn, in ihrem Glauben spürte man eher einen uralten heidnischen Hauch.

Aber die Serben sind ein irrationales Volk wie kaum ein anderes. Ihr Heiduckenblut, ihr doppeldeutiges Verhalten, ererbt durch die lange türkische Besatzung, ihr zweifelsfreies Heldentum sowie der boshafte Humor, all das bewirkte in diesem Volk viele Unklarheiten, überraschende Handlungsweisen, die ihm oft schadeten, aber einerlei!

Ist im ambivalenten Belgrad nicht vor hundert Jahren die Bewegung des Surrealismus entstanden, eine der bekanntesten in der Welt? Die trotz all ihren dichterischen und intellektuellen Komponenten den Geist und die mentalen Eigenschaften der serbischen Menschen, am Rand des Realen, genau umriss. Die heutige Regierung verurteilte Putins Einfall in die Ukraine deklarativ, doch ihre Leute, auf der Strasse, auf dem Markt und in den Häusern, stehen in der grossen Mehrheit mit ganzem Herzen hinter ebendiesen Russen in ihren Panzern und hinter ihren Lafetten.

Der Gebrauch des Bades

Den serbischen Geist kompliziert eine durch die jahrhundertelange Besatzung verursachte Frustration, und während andere zur allgemeinen Europäisierung schritten, handelten sich die Serben von den türkischen Besatzern nur den Gebrauch des Bades ein. Daher kommt wohl auch ihr Wunsch nach Entschädigung. Und so wie Putin heute meint, die Ukrainer gebe es nicht, weil sie eigentlich Russen seien, so meinen auch die Serben, die Kroaten seien nur verkleidete Serben, das ist wohl der gemeinsame Kern von einem kleinen und dem anderen, dem grossen Volk.

Die ganze Familie des ehemaligen serbischen Diktators Milošević fand im Übrigen Zuflucht hinter den Kremltürmen. Dort irgendwo verbirgt sich auch der hauptkommandierende General der Armee, die vor dreissig Jahren den blutigen Balkankrieg begonnen hat.

Ein Verwandter von mir regte sich einst bei einem Fussballspiel der jugoslawischen Mannschaft gegen die Russen sehr auf, ich fragte ihn, für wen er denn sei. Für die Russen natürlich, sagte er. Das ist bei aller Unklarheit gewissermassen bis heute so geblieben. Ein weltbekannter serbischer Regisseur wurde ausgerechnet in diesem Moment Leiter des Haupttheaters der aggressiven russischen Armee. Die Serben würden sich vielleicht am liebsten mit Mütterchen Russland vereinen, wenn sich nur nicht Rumänien dazwischengestellt hätte, und jetzt, ja, stört sie auch diese Ukraine!

Ich weiss, dass es in Serbien auch Menschen mit anderen Auffassungen gibt, in dem Masse, wie die Grösse des Gehirns im Kopf des Menschen tragisch klein ist gegenüber dem Rest des Körpers. Einem Zyniker unter den Serben könnte vielleicht in den Sinn kommen, dieser gefährliche Krieg sei eine innere Angelegenheit des ehemaligen Sowjetreichs und der Rest Europas habe keinen Grund, sich zu beunruhigen!

Dieser Zynismus, der sich gegen so viele Menschen dort richtet, hat vielleicht trotzdem einen realen Hintergrund, ich meine schon länger, dass man dort langsam versucht, den einstigen Riesenstaat zu erneuern. Nur dass es auch den Serben mehrheitlich nicht von Anfang an klar war, auch nicht angesichts der Geschehnisse in Georgien, Tschetschenien, auf der Krim, bei der Einmischung in die bescheidenen baltischen Länder, der Statthaltermentalität von Weissrussland.

Ein kleinwüchsiger Neurotiker

Alles möglicherweise wegen des faulen Handels mit einer Erscheinung ausserhalb jeden menschlichen Einflusses, weil das Erdgas, so wie es auch heisst, der Erde gehört und nicht dem Menschen, seinem Usurpator und Nutzer. Es ist ein Unglück, dass der serbische Populus übersieht, dass der Aufseher über diese unendlich lukrativen Installationen ein böser kleinwüchsiger Neurotiker ist, der die Uhr am rechten Handgelenk trägt, dem aber trotzdem nicht klar ist, in welcher Zeit er lebt. Und sich mit seinen plastischen Operationen jünger zu machen versucht, um in eine vergangene Zeit zurückzukehren. Unter seinem Auge wäre also das Land von einst wiederherzustellen, nur ohne jeden Sozialismus. Sondern so, dass es am ehesten der alten zaristischen Autokratie gleicht.

Ein grosser Dichter und Minstrel Russlands, Sänger und Poet seiner tragischen Geschichte, Bulat Okudžava, deponierte seine eigene Wahrheit in einem wenig bekannten Brief an den kroatischen Schriftsteller Predrag Matvejević: «Russland hatte nie die Institution der Demokratie, noch kannte es sie. Russland hatte nie die Institution der Freiheit. In Russland achtete man nie die Persönlichkeit. In Russland achtete man nie das Gesetz.» In einem Land, wo von jeher die unreinen Mächte Dostojewskis herrschten, die bösen Geister, die «Besy».

Kann diese bittere Erkenntnis die serbischen Hitzköpfe etwas abkühlen?

Der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, lebt in Berlin und Rovinj. Dieser Tage erscheint bei Schöffling sein neues Buch «Operation Kaspar». – Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Griesshaber.