Gastkommentar

Deutschland kommt eine besondere Verantwortung zu

Putin hasst Europa, den Westen, die Ukraine. Das ist nicht neu. Und trotzdem hat die deutsche Politik bis zuletzt den Dialog beschworen.

Karl Schlögel
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Zeitenwende ist das Wort des Augenblicks. Die Einmütigkeit, mit der es im Deutschen Bundestag aufgenommen wurde, deutet darauf, dass mit dem russischen Angriff auf die Ukraine die Wirklichkeit endlich angekommen ist in den Entscheidungsräumen der Politik. Jahrzehntelang war die Rede von der Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Der Bau der Gaspipeline wurde von Schröder bis Merkel und bis vor kurzem auch noch von Scholz als privatwirtschaftliches Projekt angepriesen. Die Frage stellt sich, wie so lange kleingeredet oder gar verschwiegen werden konnte, dass die Pipeline von Anfang an Abhängigkeitsverhältnisse schuf und als energiepolitische Waffe würde eingesetzt werden können. Wie musste es um eine Regierung bestellt sein, die bis zuletzt den Dialog beschwor, während Putin längst seine Verachtung für diplomatisches Reden demonstrierte und seine Truppen in Stellung brachte?

Russenkitsch

Putins Eskalationsdominanz und die verzögerte Reaktionsgeschwindigkeit des Westens gehören zusammen. Wie schwer es ist, besonders in Deutschland, Abschied zu nehmen von einer obsolet gewordenen Welt, ist nicht erst jetzt im Schock des russischen Krieges offensichtlich geworden. Man musste von Russland nicht viel verstehen, wenn man nur etwas zu den Fehlern des Westens zu sagen wusste. Zur Apologie Putins gab es eine Lektion über die historischen Defizite Russlands in Sachen Zivilgesellschaft und das Bedürfnis «der» Russen nach der starken Hand eines Zaren. Die russische Propaganda brauchte keine Agenten, sie bekam den Russenkitsch gratis geliefert.

Die Allianz der verständnisinnigen Putin-Interpreten von Gregor Gysi über Sahra Wagenknecht bis zu Matthias Platzeck war parteiübergreifend. Sie reichte von der Linken, die von sich behauptet, sie stehe in der Tradition des Antifaschismus, bis zu Alexander Gaulands AfD. Diese berief sich gerne auf Bismarck und das 19. Jahrhundert und pflegte Kontakte zum orthodoxen Oligarchen Konstantin Malofejew, der die Separatisten im Donbass finanziert. Gerhard Schröder ist wohl ein besonderer Fall, in dem fast alles, was den deutschen Russlandkomplex ausmacht, zusammenkommt: das Trauma von Krieg und Vaterverlust oder der Eros der Macht.

Der Weckruf der Gegenwart

Die Moskauer Führung kennt die deutsche mentale Befindlichkeit aus Schuldbewusstsein, Faszination für die russische Seele und Wirtschaftsinteressen gut genug, um deren Klaviatur virtuos zu spielen. Die meisten Deutschen leben noch immer in der Vorstellung, die Verbrechen der Wehrmacht und der Sonderkommandos seien allein gegen die Russen gerichtet gewesen. Die Ukraine und Weissrussland, die Hauptschauplätze der Hitlerbarbarei, kamen in dieser Wahrnehmung nicht vor. Selbst nach dem schon drei Jahrzehnte zurückliegenden Ende der Sowjetunion, nach den Aufständen in Kiew und der Volksbewegung in Minsk tut man sich in Deutschland – und noch mehr weiter westlich davon – schwer, anzuerkennen, dass sich die Landkarte Europas radikal verändert hat.

Die Deutschen hätten Grund genug, sich angesichts ihrer Vergangenheit gegenüber den von ihnen geschundenen Völkern besonders verantwortlich zu fühlen, also ihnen in der Not mit Waffen beizustehen, anstatt sie moralisch zu belehren. Die Ungeheuerlichkeit der jetzt unter unseren Augen begangenen Verbrechen der russischen Armee erlaubt uns nicht mehr, in einer Erinnerungskultur und Gedenkarbeit zu verharren, die schon seit geraumer Zeit zum Ersatz für die Konfrontation mit der Gegenwart geworden ist. Man kann nicht glaubwürdig der Opfer der deutschen Besatzung in Kiew, Charkiw, Odessa gedenken und zu den Opfern des russischen Kriegs heute schweigen.

Die mächtige Welle spontaner Sympathie und Hilfsbereitschaft für die bedrohte und kämpfende Ukraine in Deutschland und in der Welt hat die erstarrten Formen historischer Erinnerung überrollt, eine Erfahrung, hinter die wir nicht zurückgehen können. Sie hilft, immun zu werden gegen die Manipulationen der Moskauer Propaganda, die die Schuldgefühle der Deutschen instrumentalisiert, und zu lernen, die Dinge beim Namen zu nennen.

Mit dieser Schwierigkeit fängt es schon an. Wir haben noch nicht einmal einen Namen für den Mann, der den Krieg gegen die Ukraine entfesselt hat, und keine Bezeichnung für das System, dem die Ukraine einverleibt werden soll. Semantisch feine Unterschiede sind hier von Belang. Die Rede ist von einem Präsidenten, der vom Volk gewählt worden ist, wie in demokratischen Gesellschaften üblich, einem Autokraten, Despoten, einem autoritären Herrscher, einem neuen Zaren, einem Diktator, den man in einem Atemzug mit Stalin und Hitler nennen darf – oder auch nicht. Das System ist bald postsowjetisch, neoimperial, neostalinistisch, faschistisch, euroasiatisch, kleptokratisch, totalitär, ein Mafiastaat, ein Gebilde aus Geheimdienst und Oligarchenkapitalismus – um nur einige zu nennen.

Die Literatur über die Zeit und das Regime Putins füllt bereits ganze Bibliotheken. Überall ist analytische Zurückhaltung zu spüren. Niemand will sich in die Falle der Analogieschlüsse locken lassen, so schlagend die Parallelen zwischen Mussolini, Hitler, Stalin auch sein mögen. Niemand möchte missverstanden werden und auf die Parallele zwischen dem Anschluss des Sudetenlandes und der Annexion der Krim, zwischen der Politik des Appeasements damals und der von heute verweisen. Alle wissen, dass Totalitarismus ein Kampfbegriff des Kalten Krieges war, und ziehen es vor, das Wort zu vermeiden, auch wenn es wieder hochaktuell ist. Angesagt sind Multiperspektivität, Relativität.

Überforderung und Angst

Die lang an den Tag gelegte Unentschiedenheit gegenüber der russischen Aggression erinnert an die Situation der 1930er Jahre im Angesicht des Aufstiegs des Faschismus und des Nationalsozialismus. Auch damals gab es eine Zeit der Verunsicherung, des Abwartens, des Verdrängens und des Zögerns, den Ernst der Lage anzuerkennen. Das drückte sich aus in der intellektuellen Überforderung und im mühseligen Aufbau des Widerstands gegen Faschismus, Nationalsozialismus und – nicht zu vergessen – Stalinismus. Die besten Geister einer ganzen Generation haben darum gerungen, sich Klarheit zu verschaffen über diesen neuartigen Gegner. Internationale Kongresse, Analysen, Publikationen kreisten in den 1920er und 1930er Jahren um die Frage, mit wem sie es zu tun hatten.

Es gab die Warner, die ihren unmittelbaren Erfahrungen trauten, aber nicht ernst genommen wurden. Es gab den Verrat der Intellektuellen, den der französische Philosoph Julien Benda anklagte. Es gab die nicht wenigen Intellektuellen, von denen Hannah Arendt sagte, sie wundere sich, wie viel ihnen zu Hitler einfalle. Das Ringen um Klarheit, um Beschreibungskategorien in einer Zeit der allgemeinen Verwirrung wurde vom «Zivilisationsbruch» (Dan Diner) überholt. Mir scheint, dass sich die Situation der Überforderung, der Angst, der Ohnmacht und der damit verbundenen Lähmung heute wiederholt.

Das Gesicht des «Dritten Imperiums»

Vielleicht sind die Auftritte Putins in den Tagen vor dem Angriff auf die Ukraine Szenen, in denen der ganze Putin zur Entfaltung kam. Worauf es ihm ankommt, macht seine Rede klar und ist längst bekannt – die Vernichtung einer freien und unabhängigen Ukraine –; viel aufschlussreicher als das Was ist indes das Wie. Dazu gehören: die Abgeschiedenheit und Isolation seines holzgetäfelten Kabinetts, der Schreibtisch, an dem er sich bald festhält, bald sich zurücklehnt, das fast wie ein Stück aus der Vergangenheit wirkende Telefon, die Eindringlichkeit, mit der er auf die imaginären Zuschauer einredet, der verächtliche und sarkastische Ton, in dem er von den «Partnern» im Westen spricht, der Hass, in dem er über die ukrainische Regierung – «Narkomanen und Neonazis der Kiewer Junta» – herfällt.

Das Ambiente, die Krawatte, die Flagge im Hintergrund lassen sich inszenieren, solche Wut, solche Masslosigkeit des Ausdrucks, solche Verachtung indes nicht. Hier ist Putin ganz bei sich, getrieben und überwältigt von einem Hass, der nicht aus der Lektüre von Büchern herkommt, gepeinigt von einer Kränkung und einem Komplex, den er auch seinen Landsleuten einzureden versucht. Der verzweifelte Verlierer, dessen Sieg nur darin besteht, dass er zeigt, dass er über die Macht verfügt, alle, auch sein eigenes Volk, mit in den Abgrund zu reissen.

Kern der Gewalt

Putin verkörpert die Tragödie, in die er sein Land geführt hat, und das Unglück, das er über die Ukraine gebracht hat. Die unbewältigte Geschichte des untergegangenen Imperiums, dessen Auflösung anzuerkennen er nicht die Kraft besitzt und dessen Wiedererrichtung als «Drittes Imperium» er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften betreibt. Dieser Mann verkörpert bis heute das Imperium in seinem innersten und bis heute intakt gebliebenen Kern der Gewalt, des KGB, des sowjetischen In- und Auslandgeheimdienstes, aus dem er hervorgegangen ist.

Putin kann sich ein Russland nach und jenseits des Imperiums nicht vorstellen, und die Bewirtschaftung aller in der unbewältigten Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert liegenden Traumata ist die Grundlage seines Herrschaftsmodells, Kern seiner Destruktivität.

Das zum Untergang verurteilte Imperium ist Putin wichtiger als das Überleben Russlands. Er hasst Europa, das er zugleich als schwächlich verachtet, und er hasst den Westen, dessen Lebensform eine Gefahr für seine Herrschaft ist. Er hasst die Ukraine, die nichts anderes will, als ein normales Land zu sein. Er geniesst es, den Westen zu zwingen, tatenlos zuzusehen, wie die Ukraine zugrunde gerichtet wird.

Karl Schlögel ist Osteuropahistoriker und Publizist. Zuletzt ist von ihm erschienen: «Der Duft der Imperien» (2020).