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Serhij Zhadan

Krieg in der Ukraine Liebe Europäer, machen Sie sich keine Illusionen

Serhij Zhadan
Ein Gastbeitrag von Serhij Zhadan
Serhij Zhadan ist der populärste Schriftsteller der Ukraine – und noch immer im belagerten Charkiw. Hier richtet er sich an den Westen und appelliert an die Deutschen, diesen Krieg als das zu sehen, was er ist.
Zentrum von Charkiw: Aber die Stadt hat keine Angst

Zentrum von Charkiw: Aber die Stadt hat keine Angst

Foto: Pavel Dorogoy / picture alliance / dpa / AP

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Meine Freunde wurden am Donnerstag in Charkiw durch ein russisches Grad beschossen, das ist ein Mehrfachraketenwerfersystem. Ein Geschoss explodierte ein paar Dutzend Meter von ihnen entfernt und traf dann das Auto, das hinter ihnen fuhr.

Wären sie fünf Sekunden langsamer gewesen, hätten sie ihr Leben verloren. Sie sind keine Soldaten. Sie sind Künstler. Angesagte junge Künstler. Vor dem Krieg hatten sie ihre eigenen Ausstellungen, lebten ein Künstlerleben. Nach dem Einmarsch der Russen blieben sie in der Stadt und arbeiteten ehrenamtlich, sie brachten Lebensmittel und Medikamente in die Stadt und halfen der Zivilbevölkerung. Sie gerieten nun unter Beschuss.

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Foto: Dominic Steinmann / KEYSTONE / picture alliance

Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, wurde in der Ostukraine geboren. Er studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und ist heute der populärste ukrainische Schriftsteller. Sein Roman »Die Erfindung des Jazz im Donbass« wurde von der BBC zum »Buch des Jahrzehnts« gekürt. In Deutschland erschien zuletzt bei Suhrkamp sein Gedichtband »Antenne«. Zhadan lebt in Charkiw.

In Charkiw kann das im Augenblick jeden treffen: Die Russen bombardieren die Stadt chaotisch und ununterbrochen, treffen Wohngebiete, Schlafzimmer, Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten. Das Bombardement ist ständig zu spüren. Das ist unsere Realität. Aber die Stadt hat keine Angst, sie lebt ihr Leben weiter. Dieses Leben findet jetzt eben nur unter dem Hagel von Raketen statt.

Charkiw liegt sehr nah an der russischen Grenze. Schon am ersten Tag des Krieges tauchten hier russische Truppen auf. Es schien, als rechneten sie damit, die Stadt schnell und mit wenig Blutvergießen einzunehmen. Ebenfalls am ersten Tag tauchten russische Panzer auf den umliegenden Straßen in der Nähe der Stadt auf. Sie wurden abgeschossen und verbrannten.

Zur Mittagszeit sind die Straßen leer

Die Verteidigung der Stadt hat sich als recht effektiv erwiesen – die Russen konnten nicht in die Stadt eindringen, und die Kampfgruppen, denen es gelang, nach Charkiw durchzubrechen, wurden vernichtet. Die Stadt wurde nicht besiegt, denn es gelang, eine große Zahl feindlicher Truppen auszuschalten. Da die russische Armee es nicht schaffte, die Stadt im Sturm einzunehmen, begann sie, mit Flugzeugen und Raketen anzugreifen.

Dabei hat sie allerdings eine große Anzahl von Flugzeugen über Charkiw verloren. Nun fliegen diese nicht mehr so häufig. Dafür werden die Wohngebiete bombardiert, als wollten die Russen sich auf diese Weise an der Stadt rächen, die sich nicht aufgibt.

Die Stadt funktioniert weiterhin. Alle kommunalen Dienste funktionieren, es kommt humanitäre Hilfe aus dem ganzen Land, die Zivilbevölkerung wird nach und nach evakuiert. Wenn man das ständige Geräusch des Beschusses beiseiteschiebt, kann die Stadt einem das Gefühl geben, ein normales Leben zu führen. Allerdings sind nicht mehr so viele Passanten auf den Straßen zu sehen. Und es gibt immer mehr zerstörte Gebäude.

Zur Mittagszeit sind die Straßen leer – die Bürger von Charkiw bereiten sich dann auf die Ausgangssperre vor. Nachts wechseln sich Zeiten der Stille mit heftigen Explosionen ab, und stündlich wird Bombenalarm ausgelöst. Am schlimmsten hat es bisher den großen Vorort Saltiwka getroffen, eine Schlafstadt – die Russen zerstören die Häuser dort einfach mit ihren Raketen. Ich habe Freunde dort, um ein Haar sind sie dem Tod entkommen.

Am Morgen spreche ich mit einem Priester, den ich kenne und der sich dort – in der Zone mit dem stärksten Beschuss – aufhält, und frage ihn nach der Lage. »Sehr gut sogar«, antwortet er. »Findet der Gottesdienst am Samstag statt?«, frage ich. »Natürlich«, sagt er, »unbedingt.«

Ich weiß nicht, wie dieser Krieg in Deutschland dargestellt wird, wie man ihn schildert, was man darüber sagt. Aber mehrmals habe ich schon westliche Politiker gesehen, die davon sprechen, die Nato werde sich nicht in den Ukrainekonflikt einmischen. Also nicht in den »Krieg«, oder »Krieg mit dem Aggressor«, sondern »Konflikt«. Tatsächlich überrascht mich das nicht.

In den vergangenen acht Jahren, seit der Annexion der Krim, habe ich sehr häufig gesehen, wie Bürger Deutschlands, Frankreichs oder der Schweiz nach immer neuen Möglichkeiten gesucht haben, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Zum Beispiel, Russland nicht als »Aggressor« zu bezeichnen, Putin nicht als »Schurken« zu bezeichnen, den Krieg im Donbass nicht als »russisch-ukrainischen Krieg« zu bezeichnen. Wir haben gesehen, wie die westlichen Mächte weiterhin mit dem Kreml Handel getrieben haben und auch immer noch treiben – und dabei schöne Worte über »Freiheit« und »Demokratie« verlieren.

Was hier geschieht, ist ein Völkermord.

Ich weiß nicht, wann dieser Krieg zu Ende sein wird und welchen Preis wir für unseren Sieg zahlen müssen. Aber ich möchte ein paar Worte über die kollektive Verantwortung des Westens für all das sagen, was hier vor sich geht. Ihr habt zu lange und zu unverschämt mit den Tätern dieses Kriegs verhandelt. Ihr habt lange zwischen euren Prinzipien und eurer Bequemlichkeit geschwankt und dabei alle Verpflichtungen der Partnerschaft vergessen. Ihr habt zugelassen, dass die russische Propaganda euer Bewusstsein mit Lügen über »ukrainische Nazis« und den »Bürgerkrieg in der Ukraine« oder den »gesellschaftlichen Konflikt« überschwemmt hat. Ihr habt eine Mitverantwortung.

Nach allem, was die Russen in Mariupol,  Charkiw, Tschernihiw und anderen ukrainischen Städten angerichtet haben, kann es meines Erachtens keinen Kompromiss mit dem heutigen Russland geben. Denn dies ist kein Krieg zwischen der russischen Armee und der ukrainischen Armee. Es ist ein Krieg zwischen der russischen Armee und dem ukrainischen Volk. Was hier geschieht, ist ein Völkermord. Die Russen dezimieren bewusst und systematisch die Zivilbevölkerung der Ukraine. Sie zerstören die Infrastruktur, bombardieren Schulen, Theater, Museen, Kirchen, Wohngebäude.

Das ist die Zerstörung des ukrainischen Volkes. Und dafür werden die Russen eine kollektive Verantwortung tragen. Eines sollte hier verstanden werden: In diesem Konflikt leiden am meisten die Städte, die auch nach dem Beginn des Krieges 2014 Russland gegenüber noch loyal waren. Deren Einwohner sich Russland zugehörig fühlten und die versuchten, das russische Volk und Putin zu trennen. Russland hat in den vergangenen drei Wochen alles getan, damit die russischsprachigen Ukrainer des Ostens ihre Illusionen über die Bevölkerung der Russischen Föderation verlieren.

Wir werden nicht von einem abstrakten Putin getötet, sondern von bestimmten Bürgern des Angreiferlandes, die genau zu diesem Zweck hierhergekommen sind – um uns zu töten. Es gibt keinen anderen Namen dafür.

Der Kreml kann so viel Unfug über die »Entnazifizierung« verbreiten, wie er will, diese idiotischen Lügen verlieren jeden Sinn, wenn man das zerbombte Theater von Mariupol sieht.

Liebe Europäer, machen Sie sich keine Illusionen: Dies ist kein lokaler Konflikt, der morgen zu Ende sein wird. Dies ist der dritte Weltkrieg. Und die zivilisierte Welt hat kein Recht, diesen zu verlieren, wenn sie sich für zivilisiert und unabhängig hält.