Das Pamphlet eines grossrussischen Nationalisten – Wladimir Putin erklärt die Ukrainer zu Russen und leitet daraus Besorgniserregendes ab

Der russische Präsident hat sich einmal mehr als Historiker versucht. In einem Aufsatz begründet er, weshalb die Ukrainer und die Russen ein Volk seien, aber von aussen auseinandergetrieben würden. Der Text ist politisch brisant.

Markus Ackeret, Moskau
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Kinder, Frauen und Männer lauschen in Sewastopol auf der Halbinsel Krim am 18. März 2014 der übertragenen Ansprache von Präsident Putin, der die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation verkündet.

Kinder, Frauen und Männer lauschen in Sewastopol auf der Halbinsel Krim am 18. März 2014 der übertragenen Ansprache von Präsident Putin, der die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation verkündet.

Andrew Lubimov / AP

Sowjetische Revolutionäre und Staatschefs hinterliessen gesammelte Werke mit Dutzenden von Bänden. Als Theoretiker des heutigen Russland versteht sich Wladimir Putin nicht. Je länger er an der Macht ist, desto stärker interessiert er sich indes für Geschichte und das historische Erbe. Fachhistoriker fragen sich besorgt, was es bedeute, wenn der Präsident selbst zur höchsten historischen Instanz werde. In der «korrekten» Beurteilung des Zweiten Weltkriegs und seiner Vorgeschichte beansprucht Putin das seit einem Jahr bereits für sich.

Jetzt hat er – auf der Website des Kremls, aber unterschrieben nur mit «W. Putin» – einen neuen, als wegweisend zu verstehenden Aufsatz veröffentlicht. Er ist überschrieben mit «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer» und liest sich wie eine Mischung aus Seminararbeit und politischem Pamphlet. Aber es ist mehr als der geschichtswissenschaftlich misslungene Versuch eines Hobbyhistorikers. Das Werk gibt Einblick in Putins Denken und in Szenarien künftiger russischer Politik. Es rechtfertigt territoriale Ansprüche ebenso wie ein Eingreifen jeglicher Art – stets vorgeblich zugunsten der Ukrainer, die es als eigenständiges Volk gar nicht gebe. Die Ukraine kommt darin nur in Abhängigkeit von Russland vor.

Projekt eines «Anti-Russlands»

Die These, die Russen und die Ukrainer seien ein Volk, vertritt Putin seit Jahren. Für das Nachbarland hat sie etwas Bedrohliches, das durch die Einverleibung der Krim, die Aufwiegelung und Einmischung im Donbass sowie die immer wieder unverhohlen formulierten territorialen Begehrlichkeiten im Süden und Osten der Ukraine ganz real geworden ist. Der Militäraufmarsch entlang der ukrainischen Grenze im Frühjahr – angeblich ein Manöver als Reaktion auf Nato-Aktivitäten – zeigte, welch immense strategische Bedeutung der Kreml der Ukraine zumisst und wie wenig er deren eigenständige aussenpolitische Orientierung zu tolerieren geneigt ist.

Um das Erscheinen des Aufsatzes zu begründen, verwies Putin in einem nachgeschobenen Fernsehinterview auf einen auch im Text selbst geäusserten Gedanken: Auswärtige Mächte wollten in der Ukraine ihr Projekt eines «Anti-Russlands» verwirklichen. Mittlerweile habe auch die militärische Vereinnahmung des Landes begonnen, das ganz direkt unter auswärtiger Verwaltung stehe und damit Russlands Sicherheit bedrohe.

«Wir werden nie akzeptieren, dass unsere historischen Territorien und die dort lebenden, uns nahen Menschen gegen Russland verwendet werden.» Wie in der Gesellschaft, so sei es auch zwischen Staaten: Die Freiheit des Einzelnen sei begrenzt durch die Freiheit der Übrigen. Echte Souveränität werde es für die Ukraine nur in Partnerschaft mit Russland geben, davon sei er überzeugt.

Auch das Projekt «Anti-Russland» verortet Putin historisch: Bereits im 17. und 18. Jahrhundert habe die polnische Rzeczpospolita angebliches ukrainisches Nationalbewusstsein nur zum Zweck der Abgrenzung zu Russland gefördert, und vor dem Ersten Weltkrieg habe das österreichisch-ungarische Kaiserreich dies wiederholt. Durch den ganzen Aufsatz zieht sich der Topos, der Putins Denken grundsätzlich – auch gegenüber seiner eigenen Bevölkerung – prägt und der von Anfang an ebenso für den Blick der russischen Propaganda auf die Revolution 2014 auf dem Maidan galt: Die Bevölkerung erscheint nie als politisches Subjekt, sondern stets als Objekt auswärtigen Handelns.

Nur zusammen mit Russland

All die Schalmeienklänge im Text über die Freiheit jedes Landes, seinen Weg selbst zu wählen und seine Kultur selbst zu prägen, prallen an der Ausgangsposition ab: Die Ukraine könne es nur zusammen mit Russland geben. Der «historisch-geistige Raum», die «Grundlagen des gemeinsamen Glaubens und der kulturellen Traditionen» und die schulbuchmässig erzählte Geschichte der wechselhaften Herrschaftsräume auf dem Gebiet der Ukraine begründen diese Position mittels einer historiografisch völlig unzulänglichen, statischen Interpretation von «Volk» und «Nation».

Nachdrücklich verweist er immer wieder auf das einigende Band der russischen Sprache und benutzt den in der Ukraine als herablassend empfundenen Begriff «Kleinrussen» für die Bevölkerung. Erstaunlich ist deshalb, dass der Aufsatz auf der Kreml-Seite auch auf Ukrainisch publiziert wurde.

Die Ukraine sei nur dank der Sowjetunion zu dem geworden, was sie heute darstelle. Das ist in Putins Sicht auch ein springender Punkt für die eigentlich bloss geborgte Unabhängigkeit. Mit den Gründungsvätern der Sowjetunion geht er, nicht zum ersten Mal, harsch um. In zwei Grundprinzipien der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken sieht er das Übel von deren Zerfall 1991 bereits angelegt: in der Möglichkeit, aus der Union freiwillig auszutreten, und in der Alleinherrschaft durch die Führung der Kommunistischen Partei.

1922 sei die Ukraine auf Kosten des historischen Russland zur Sowjetrepublik geworden. Das hätten die Bolschewiken zugelassen; Russland sei faktisch beraubt worden um weite Teile dessen, was heute die Ukraine sei. Aber weil es den Gegnern Russlands nütze, wenn Russland geschwächt sei, habe das nie jemand als Verbrechen an Moskau gewertet. Aus dieser Stelle und vielen anderen Äusserungen spricht der beleidigte grossrussische Nationalist, der weniger der Sowjetunion als dem Russischen Reich nachtrauert.

Pandorabüchse territorialer Forderungen

Die Schlüsse, die Putin aus dieser Interpretation zieht, sind politisch brisant und öffnen potenziell die Pandorabüchse für territoriale Forderungen – nicht nur an die Ukraine. Putin schreibt nämlich, es wäre unter diesen Umständen nichts als gerecht gewesen, wenn die Sowjetrepubliken beim Austritt 1991 aus der Union in den Grenzen von 1922 unabhängig geworden wären. Daraus, dass sie es nicht geworden sind, leitet er das Recht der Russen auf eine besondere Beziehung ab. Einmal mehr verurteilt er die angebliche Diskriminierung der Russischsprachigen. Für sich selbst nimmt er in Anspruch, viel für den Frieden im Land getan zu haben. Aber so, wie sich Kiew verhalte, mache es den Eindruck, als brauche es den Donbass nicht.

Ukrainische und oppositionell gesinnte russische Kommentatoren sehen in dem Aufsatz die geistige Vorarbeit für eine neuerliche militärische Einmischung in der Ukraine, die Einverleibung des Donbass oder die Anerkennung der Unabhängigkeit der russisch kontrollierten Separatistengebiete, in denen Russland grosszügig Pässe verteilt. Regimetreue, nationalpatriotische Kommentatoren und Politiker frohlocken mit denselben Argumenten: Endlich zeichne sich ab, dass Putin gewillt sei, das Werk in der Ukraine zu vollenden, die verlorenen Territorien heimzuholen und nach der Schande von 1991 die Mission der Wiedervereinigung des «dreieinigen Volkes» aus Russen, «Kleinrussen» und Weissrussen zu vollziehen.

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