Eska­la­tion des Kon­flik­tes im Donbas – vor sieben Jahren und heute

© Donat Sorokin/​TASS /​ Imago Images

Der Auf­marsch rus­si­scher Truppen an den Grenzen zur Ukraine ver­setzt die Ukraine und den Westen in Alarm­be­reit­schaft. Jakob Hauter unter­sucht die pri­mä­ren Gründe für den Krieg im Donbas.

Berichte, dass Russ­land massiv Truppen und Kriegs­ge­rät in Rich­tung der ukrai­ni­schen Grenzen bewegt, haben Ängste vor einer neuen Eska­la­tion der Gewalt in der Region geweckt. Kyjiw beschul­digt Moskau, mit seinen Trup­pen­be­we­gun­gen die Sicher­heit der Ukraine zu gefähr­den. Gleich­zei­tig behaup­tet der Kreml, Russ­land handle rein defen­siv und sei für nie­man­den eine Bedrohung.

Zum Ver­ständ­nis der aktu­el­len Situa­tion ist es wichtig, sich damit zu beschäf­ti­gen, was im ost­ukrai­ni­schen Donez­be­cken (Donbas) vor sieben Jahren pas­siert ist. Am 13. April 2014 führte ein Zusam­men­stoß zwi­schen bewaff­ne­ten Milizen und ukrai­ni­schen Sicher­heits­kräf­ten nahe der Stadt Slo­wjansk zur ersten tod­brin­gen­den Gewalt in einem Krieg, der laut Schät­zun­gen der Ver­ein­ten Natio­nen mitt­ler­weile mehr als 13.000 Men­schen das Leben gekos­tet hat.

In den letzten Jahren ist die Inten­si­tät der Gewalt zurück­ge­gan­gen, aber dau­er­haf­ter Frieden blieb ein frommer Wunsch. Im Jahr 2020 zählte die ukrai­ni­sche Seite immer noch 104 Tote entlang der Frontlinie.

Genau wie die aktu­el­len State­ments zu den jüngs­ten rus­si­schen Trup­pen­be­we­gun­gen, wird auch die gesamte Debatte über die Gründe des Krieges von zwei dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setz­ten Nar­ra­ti­ven domi­niert. Die ukrai­ni­sche Staats­füh­rung por­trä­tiert den Krieg als rus­si­sche Inva­sion und Rache für den Sturz des pro-rus­si­schen Prä­si­den­ten Viktor Janu­ko­witsch in der „Revo­lu­tion der Würde“ im Februar 2014. Der Kreml hin­ge­gen strei­tet jede Betei­li­gung ab und behaup­tet, der Krieg sei ein inter­ner Kon­flikt zwi­schen dem ukrai­ni­schen Militär und der Bevöl­ke­rung des Donbas, die sich nicht mit dem Macht­wech­sel in Kyjiw abfin­den wollte. Dieser Macht­wech­sel wird von Russ­lands Politik und Medien gerne als „Staats­streich“ tituliert.

Die Ein­schät­zun­gen von Wis­sen­schaft­lern sind nuan­cier­ter als die poli­ti­sche Debatte, aber sie zeigen eine ähn­li­che Pola­ri­sie­rung. Einige For­scher betonen die Rolle lokaler ukrai­ni­scher Gege­ben­hei­ten als Gründe des Krieges, während andere Russ­lands Rolle her­vor­he­ben. Ein von mir her­aus­ge­ge­be­ner Sam­mel­band beschäf­tigt sich mit dieser Debatte. Er prä­sen­tiert die Argu­mente beider Seiten sowie Über­le­gun­gen, wie diese mit­ein­an­der in Ein­klang gebracht werden könnten.

Ein Puzzle eska­lie­ren­der Ereignisse

Meine eigene For­schung ver­sucht fest­zu­stel­len, ob interne Span­nun­gen oder aber die rus­si­sche Inter­ven­tion der primäre Grund für den Krieg im Donbas waren und sind. Ein erster Schritt in diese Rich­tung ist ein Artikel, den ich Anfang dieses Jahres in The Soviet and Post-Soviet Review ver­öf­fent­lich habe. Das ist eine wis­sen­schaft­li­che Fach­zeit­schrift, die sich mit der Geschichte der Sowjet­union und ihrer Nach­fol­ge­staa­ten beschäf­tigt. Ich ana­ly­siere in meinem Artikel einen Daten­satz aus Berich­ten unter­schied­li­cher Online-Nach­rich­ten­sei­ten, die in Echt­zeit über die Ereig­nisse im Donbas berich­te­ten. Ich komme zu dem Schluss, dass es am besten ist, sich auf eine detail­lierte Analyse spe­zi­fi­scher Kon­flik­t­epi­so­den zu kon­zen­trie­ren und so die Eska­la­tion des Krieges Schritt für Schritt zu unter­su­chen. So kann man ver­hin­dern, sich in den ver­schie­de­nen gene­ra­li­sie­ren­den Pro­pa­gan­daer­zäh­lun­gen der Kon­flikt­par­teien zu verlieren.

Ich suchte in meinem Daten­satz nach Begrif­fen, die auf Kon­flikt­eska­la­tion hin­deu­ten und rekon­stru­ierte so die Abfolge der Ereig­nisse, die dafür sorgten, dass aus einer nur moderat ange­spann­ten Situa­tion im Donbas Ende Februar 2014 inner­halb weniger Monate ein Krieg wurde. Die Abfolge dieser Ereig­nisse ist eine Eska­la­ti­ons­se­quenz, bestehend aus sechs Schlüs­sel­epi­so­den. Diese Epi­so­den (Cri­ti­cal Junc­tures) hatten nach­hal­tige Folgen für den Verlauf des Krieges; in der fol­gen­den Grafik stelle ich sie dar.

 

Sechs Schritte zum Kon­flikt: Ukraine, Februar bis August 2014. Jakob Hauter/​UCL

Diese Abfolge der Ereig­nisse ist unter den Kon­flikt­par­teien weit­ge­hend unum­strit­ten. Niemand bezwei­felt, dass die beschrie­be­nen Kon­flik­t­epi­so­den statt­ge­fun­den haben und dass sie eine wich­tige Rolle für den Verlauf des Kon­flikts spiel­ten. Die Bericht­erstat­tung pola­ri­siert sich erst dann, wenn es um die Details dieser Ereig­nisse und die Dar­stel­lung der ver­schie­de­nen Akteure geht.

Es ist zum Bei­spiel sehr selten, dass es Unei­nig­keit darüber gibt, dass zu einem gewis­sen Zeit­punkt an einem gewis­sen Ort Kämpfe statt­fan­den. Aber sobald es darum geht, ob es die ukrai­ni­schen Sicher­heits­kräfte mit ein­fa­chen Durch­schnitts­bür­gern des Donbas zu tun hatten, oder aber mit Söld­nern unter rus­si­schem Kom­mando, geht die Bericht­erstat­tung stark auseinander.

Es sind also die Details spe­zi­fi­scher Ereig­nisse, die den Kern der Kon­tro­verse darüber aus­ma­chen, was im Donbas pas­siert ist und bis heute pas­siert. Deshalb ist es sinn­voll, zunächst die Details ver­schie­de­ner Kon­flik­t­epi­so­den einzeln zu unter­su­chen, bevor man sich an all­um­fas­sende Ein­schät­zun­gen und Erklä­rungs­ver­su­che wagt.

Beweise her­aus­sie­ben

Im Rahmen meiner Pro­mo­tion unter­su­che ich jeden ein­zel­nen der sechs Schritte in meiner Eska­la­ti­ons­se­quenz und prüfe, ob er primär das Resul­tat lokaler Fak­to­ren oder das Resul­tat rus­si­scher Inter­ven­tion war. Für den sechs­ten und letzten Schritt ist diese Analyse schon weit­ge­hend abge­schlos­sen und die Ergeb­nisse sind online verfügbar.

Eine Unter­su­chung des Lon­do­ner Recher­che­kol­lek­tivs Foren­sic Archi­tec­ture, an der ich mit­wir­ken durfte, hat eine Viel­zahl an öffent­lich zugäng­li­chen Bewei­sen für die Präsenz rus­si­scher Streit­kräfte in der Ost­ukraine im Umfeld der Schlacht von Ilo­wa­jsk gesam­melt und verifiziert.

Wir haben diese Beweise dann auf einer inter­ak­ti­ven kar­to­gra­phi­schen Inter­net­platt­form prä­sen­tiert. Sie bestehen zum Bei­spiel aus Fotos und Videos gefan­ge­ner rus­si­scher Sol­da­ten sowie von Panzern eines Typs, den zu diesem Zeit­punkt aus­schließ­lich die rus­si­sche Armee nutzte. Sie beinhal­ten außer­dem Google Earth Satel­li­ten­bil­der, die große Mili­tär­kon­voys auf ukrai­ni­schem Ter­ri­to­rium zwi­schen dem Schlacht­feld und der rus­si­schen Grenze zeigen.

Diese Beweise demons­trie­ren sehr deut­lich, dass die ukrai­ni­sche Nie­der­lage Ende August 2014 primär das Resul­tat einer rus­si­schen Inter­ven­tion war. Natür­lich bedeu­tet das nicht unbe­dingt, dass Russ­land aktuell dabei ist eine weitere Offen­sive vor­zu­be­rei­ten. Es bedeu­tet aber, dass ent­spre­chende Sorgen auf­sei­ten der Ukraine auf jeden Fall begrün­det und nach­voll­zieh­bar sind.

In diesem Zusam­men­hang kann mein Ansatz zur Unter­su­chung der Ereig­nisse von 2014 auch für die Analyse der aktu­el­len Situa­tion nütz­lich sein. Anstatt Energie zu ver­schwen­den bei end­lo­sen Dis­kus­sio­nen darüber, ob und warum Russ­land nun eine neue Offen­sive starten wird oder nicht, ist es meines Erach­tens sinn­vol­ler, sich auf die ver­füg­ba­ren Fakten zu kon­zen­trie­ren. Man sollte Orte, Umfang und Geschwin­dig­keit der aktu­el­len Trup­pen­be­we­gun­gen genau im Auge behal­ten und sich auf dieser Basis auf alle Even­tua­li­tä­ten vorbereiten.

Wo und mit welcher Trup­pen­stärke könnte Russ­land angrei­fen? Welche kon­kre­ten Maß­nah­men könnten Russ­land von einer wei­te­ren Eska­la­tion abhal­ten? Und wie reagiert man, wenn es trotz allem zu einer neuen rus­si­schen Offen­sive kommt?
Ange­sichts der dra­ma­ti­schen Folgen eines erneu­ten rus­si­schen Angriffs auf die Ukraine muss die inter­na­tio­nale Gemein­schaft Ant­wor­ten auf diese Fragen bereit­hal­ten, ganz gleich ob man ein solches Sze­na­rio nun für beson­ders wahr­schein­lich hält oder nicht.

Jakob Hauter hat diesen Artikel für die Web­seite The Con­ver­sa­tion geschrie­ben und somit seine For­schun­gen zum Krieg im Donbas und deren Bezüge zur aktu­el­len Lage vor­ge­stellt. Für Ukraine ver­ste­hen hat er seinen Artikel ins Deut­sche übersetzt.

Textende

Portrait von Dr. Jakob Hauter

Dr. Jakob Hauter pro­mo­vierte am Uni­ver­sity College London zu Russ­lands Rolle im Krieg in der Ostukraine. 

 

 

 

 

 

 

 

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